Parlamentswahl: Warum die Ultrarechten in Israel so stark sind

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Warum die Ultrarechten in Israel so stark sind – Seite 1

So könnte die Zukunft Israels aussehen: Es ist Dienstagabend, kurz nach 22 Uhr, die ersten Prognosen sind veröffentlicht. Der Fernsehsender Kanal 13 schaltet zur Party der größten Gewinner des Abends. Tanzende Männer, ausschließlich Männer, sind zu sehen. Sie jubeln und kreischen und schwenken riesige Flaggen. Sie sehen aus wie die radikalen Siedler, die man von geopolitischen Führungen in Hebron kennt. Wie die Teilnehmer des jährlichen Jerusalem-Marsches, bei dem zuletzt Tausende religiös-nationalistische Israelis mit voller Absicht in den muslimischen Teil der Altstadt zogen, um sich dort selbst zu feiern.

“Wer ist hier der Vermieter?”, fragt Itamar Ben-Gvir auf einem seiner Wahlplakate. Der wegen Rassismus vorbestrafte, rechtsradikale Anwalt und sein Parteienbündnis der religiösen Zionisten bekommen nach ersten Prognosen 14 bis 15 Sitze in der Knesset, Israels Parlament. Es wird vermutlich noch bis Donnerstag dauern, bis alle Stimmen vollständig ausgezählt sind. Bis klar ist, ob es nach den fünften Wahlen in weniger als vier Jahren wieder zu einem Bündnis von Benjamin Netanjahu – und zur rechtesten Regierung in Israels Geschichte kommt.

Mit 30 bis 31 prognostizierten Sitzen hat der wegen Korruption angeklagte Netanjahu die besten Aussichten. Auf 62 Mandate käme sein rechter Block im Moment, eine hauchdünne Mehrheit, aber grundsätzlich genug, um eine Regierung zu bilden. Und: Im Anti-Bibi-Lager zittern alle noch, ob es für einen Einzug ins Parlament der islamistischen Balad-Partei reicht. Nur dann, vielleicht, könnte man sich auch an der Bildung einer alternativen Koalition versuchen. Es ist die letzte Hoffnung für eine Demokratie im Schock. Was heißt es, wenn Israel tatsächlich eine so extrem rechte Regierung bekommt?

Zunächst: Benjamin “Bibi” Netanjahu persönlich hat Männer wie Ben-Gvir salonfähig gemacht, reingewaschen von ihrer rassistischen, gewaltverherrlichenden Vergangenheit. Im vergangenen Jahrzehnt haben Israel und auch die internationale Öffentlichkeit eine regelrechte Fixierung auf ihren rechtspopulistischen Allzeit-Premier entwickelt. Doch es greift zu kurz, die Schuld für das Erstarken der religiösen Nationalisten allein bei Bibi zu suchen.

60 Prozent der jüdischen Israelis definieren sich laut einer Umfrage des Israel Democracy Institutes als rechts, unter den Jugendlichen sind es sogar 70 Prozent. Aber: Nicht alle davon sind rechtsextrem. Israels Rechte lässt sich auffächern. In der Mitte stehen Konservative wie Benny Gantz, Pragmatiker wie Ex-Ministerpräsident Naftali Bennett, der wegen seiner Koalition mit linken Parteien und einer arabischen Partei von seinen Wählern verstoßen und als “Verräter” beschimpft wurde. Weiter geht es zum Likud, der Partei Bibis, erst am äußerten Rand finden sich die ganz extremen, jene, die einen religiösen Zionismus vertreten.

Warum so viele für die Ultrarechten Ben-Gvirs gestimmt haben

Es könnte – abgesehen von Netanjahus Zutun – drei Gründe haben, warum sich so viele Wählerinnern und Wähler wie nie für die Ultrarechten entschieden haben. Erstens, und das ist aus nicht jüdischer Sicht schwer zu verstehen, tobt ein Richtungsstreit innerhalb des modern-orthodoxen Judentums, besonders in Israel. Manche sagen, die Bewegung sei gespalten in ein moderates und ein radikales Lager.

Anders als die Haredim, die Ultraorthodoxen, stehen die Modern-Orthodoxen voll hinter dem Staat Israel und verstehen sich auch als zionistisch. Mit dem Unterschied allein, dass sie anders als klassische Zionisten religiös sind. Modern-Orthodoxe gehen zur Armee und übernehmen dort in den vergangenen Jahre eine immer stärkere Rolle. Sie verstehen sich traditionell als Brücke zwischen der abgeschotteten Welt der Haredim und den säkularen Israelis. Dabei wissen sie selbst nicht, wie viel Moderne sie in ihrer Gemeinschaft zulassen wollen. Wie steht man zu Homosexuellen? Wie steht man zum liberalen Judentum? Innerhalb des radikalen Teils fühlen sich mehr bei den religiösen Zionisten um Ben-Gvir zu Hause – vor allem nach ihrer Enttäuschung mit dem ebenfalls modern-orthodoxen Naftali Bennett.

Zweitens: Auch wenn Israel zu den militärisch stärksten Staaten gehört, in dem Land selbst fühlen sich viele Menschen nicht sicher. Ganz besonders nach der letzten Eskalation mit Gaza im Mai 2021, bei der er zu den schwersten Ausschreitungen zwischen arabischen und jüdischen Israelis seit Jahrzehnten kam. Nicht erst seit dem Holocaust, auch davor gab es innerhalb der jüdischen Welt eine tiefverwurzelte Angst vor Vertreibung und Auslöschung. Der israelische Journalist Yossi Klein Halevi sagte kürzlich in einem Podcast dazu, dass viele Israelis der objektiven Sicherheit, die der Staat Israel heute biete, nicht genug trauen würden. Dass sie deshalb eher zugänglich für angstschürende Kampagnen der Rechtsextremen wären.

Der dritte Grund hat indirekt mit Netanjahu zu tun. Auch unter seinen traditionellen Wählern haben mehr und mehr genug von ihm. Bibi, das hat auch die Rechte verstanden, bringt dem Land schon längst keine Stabilität mehr – auch sie machen ihn für die fünften Wahlen in weniger als vier Jahren verantwortlich. Wie die israelische Zeitung Haaretz vor der Wahl berichtete, sollen ganze Gemeinden bei dieser Wahl dem Likud den Rücken zugewandt und sich stattdessen für die religiösen Zionisten entschieden haben.

Druck aus dem Ausland könnte Netanjahu noch von einer Allianz mit den Ultrarechten abhalten

“Auch wenn die Umfragen am Ausgang der Wahlen einen Trend erkennen lassen, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es bei früheren Wahlgängen Diskrepanzen zwischen diesen Umfragen und den tatsächlichen Ergebnissen gegeben hat”, erklärte Yohanan Plesner, Direktor des Israel Democracy Institutes, in einer Pressemitteilung am späten Dienstagabend. Er skizzierte, was auf Israel im Falle einer solchen Regierung zukomme: “Sollten sich die Ergebnisse des heutigen Abends bestätigen, wird die Koalition, die die nächste Regierung bilden wird, eine Reihe von Reformen vorschlagen, die darauf abzielen, die Justiz zu politisieren und die Kontrolle und das Gleichgewicht zu schwächen”. Mögliche Maßnahmen wären: Eine Immunität für amtierende Politiker, die Netanjahu vor seiner Strafverfolgung schützen könnte.

Israels Rechtsstaat, aber auch Israels nicht jüdische Minderheiten wären im Fall einer solchen Regierungsbildung bedroht. Die USA hatten vorab bereits davor gewarnt, Ben-Gvir zu unterstützen. Der Druck aus dem Ausland könnte Netanjahu noch davon abhalten, tatsächlich eine Allianz mit den ganz Rechten einzugehen. Im Moment ist es aber noch zu früh für weitere Spekulationen. Spätestens am Donnerstag sollen alle Stimmen ausgezählt sein. Dann wird sich zeigen, wie Israels Weg aus der Wahl-Dauerschleife aussehen wird.