Anschlag in Kabul: Eine Haut, die sich um den Schrecken legt

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Der folgende Text ist im Rahmen von “Untold – Weiter Schreiben Afghanistan” entstanden und erscheint exklusiv vorab bei ZEIT ONLINE. Das durch die KfW-Stiftung initiierte Projekt der gemeinnützigen Organisation “Wir machen das” veröffentlicht Briefwechsel von Autorinnen aus Afghanistan mit Autorinnen in Deutschland. Elke Schmitter schreibt in diesem Rahmen Briefe mit der jungen Autorin Raha Mozaffari (Pseudonym). In ihrem letzten Brief an Schmitter berichtete Mozaffari von den Zwangsverheiratungen und der generellen Unterdrückung junger Frauen in ihrem Land und bezieht sich dabei mehrfach auf ihre Jane-Austen-Lektüre. Außerdem berichtet sie von dem Anschlag auf das Bildungszentrum Kausch in Kabul, bei dem auch die junge Marziya gestorben ist. Hier antwortet nun Schmitter.

Berlin, im November 2022

Äußere und innere Emanzipation

Liebe Raha,

es gab einen
Bericht des deutschen Fernsehens zu diesem furchtbaren Anschlag auf das
Bildungszentrum Kadsch in Kabul, ich habe ihn nachlesen können. Und habe mich
gefragt: Wäre es ein Trost, wenn es möglicherweise nicht Hunderte Tote waren,
sondern weniger als einhundert (wie es die Nachrichtenagentur meldete)? Es wäre
weniger schlimm, in einem nüchternen, objektiven Sinne gesagt. Weniger Mütter,
Väter, Schwestern, Großmütter, Brüder, Freundinnen mit einem Kummer, der nicht
mehr verschwinden wird, der vielleicht nur manchmal in den Hintergrund gerät
oder einem noch größeren Kummer den Vorrang gibt. Aber ob es für jeden
einzelnen Trauernden einen Unterschied macht, ob er einer von vielen oder einer
von sehr vielen ist? Es ist ja doch der eine Mensch, um den man trauert, selbst
wenn man ihn nicht kannte. Wie Marziya, von der Du, wenn ich Dich richtig
verstehe, nur weißt, dass sie einmal nach Paris reisen wollte, dass sie Elif
Shafak bewunderte und gern mit ihr gesprochen hätte. Das sind nur zwei Details,
aber eine ganze Welt von Gefühlen geht damit auf. Dabei weiß ich nicht, was Du
selbst mit Paris verbindest und woran Marziya dachte bei diesem Wort, was sie
vor sich sah. Das zartrosa Licht, das im Winter morgens und abends auf den
mächtigen weißen Steinen liegt? Oder die Cafés mit ihrer Tradition des
Diskutierens, Flirtens, mit dem Verschwimmen von Tag und Nacht? Die Heimat
Simone de Beauvoirs oder – vorübergehend – Leïla Slimanis; die Stadt der Bouquinisten, der Mode, der
Französischen Revolution? Für mich wird sie ewig die Stadt sein, in der ich als
Studentin mit einem Freund und einer Freundin zehn Tage lang in einem
blaugrauen (blau von Farbe, grau von Staub) VW-Käfer geschlafen habe, unter dem
Eiffelturm, weil wir kein Geld für eine Unterkunft hatten, und in der wir jeden
Morgen von freundlichen Flics geweckt wurden – was heute alles undenkbar ist.
Auch in Paris sind die Flics inzwischen misstrauisch und hochgerüstet.

Ich konnte fahren; mit leisen Warnungen meiner Mutter
ausgerüstet (woran ich nur noch eine pauschale Erinnerung habe), was junge
Frauen und Sicherheit betrifft. Sie hat, um Deine Frage zu beantworten, nie an
mich appelliert, die Heirat als Lebensziel zu betrachten, im Gegenteil.
Trotzdem gibt es auch im Westen einen Unterschied zwischen der äußeren und der
inneren Emanzipation, meiner Erfahrung nach. Das eine sind die Gesetze, die
objektiven Möglichkeiten. Das Zweite: wie man sie nutzen kann, welche inneren
Gebote, Ängste und Wünsche wirksam sind. Annie Ernaux, die im November den
Nobelpreis in Stockholm entgegennimmt, hat in all ihren Büchern darüber
geschrieben, über diesen lebenslangen diskreten und so mächtigen Prozess.
Allein am Beispiel ihres eigenen Lebens.

Paris ist nicht die Heimat von Ernaux,
war aber auch für sie ein Fixstern; wieder ein anderer und doch in manchen
Bildern dem der ermordeten Marziya vielleicht ähnlich. Ich weiß nicht, ob Du
Romane von ihr kennst, wie viel durchgedrungen ist zu Dir von der Preisvergabe
an sie – in Deiner Verzweiflung und in einem Land, wo Mädchen, wenn sie sich
bilden wollen, eine Zielscheibe für den bewaffneten Wahnsinn sind. Mädchen, wie
Du eines warst. Mädchen, die wissen, dass sie mit Worten, die sie lesen oder
schreiben, eine zweite Wirklichkeit erfahren oder auch erschaffen können; eine
neue Wirklichkeit für sie selbst und für andere. Nicht nur in der Klasse, wo
sie sich gegenseitig vorlesen, was sie geschrieben haben, sondern Städte und
Länder weit entfernt. Und Jahre und Jahrhunderte weit entfernt.

Es ist ein absurder Trost und also gar
kein Trost, aber vielleicht doch so etwas wie eine Haut, die sich um den
Schrecken legen kann (dünn wie eine Walnusshaut, oder vielleicht doch so dick
wie die Schale einer Feige), dass Mädchen, die lesen, und Frauen, die gebildet
sind und schreiben, für den religiösen Wahnsinn derart gefährlich sind, dass
man versucht, sie auszulöschen. Dass ein Mann im Auftrag anderer Männer sein
Leben gibt, um sie zu töten. Um die Verletzten zu traumatisieren und vom Lesen
und Schreiben für immer abzuhalten. Um Frauen wie Dich so zu erschrecken, in
eine solche Trauer zu stürzen, dass sie gelähmt werden. Dass sie, wie Du von
Dir schreibst, immer weniger lesen und schreiben.

Schreibst Du das auf, liebe Raha?
Schreibst Du bitte auf, was Du fühlst und was Du denkst? Was Deine Mutter Dir
erzählt hat und was Du Dir selber erzählst – was Du so lange nur Dir selber
erzählst, bis es eines Tages gedruckt und gelesen wird? So wie dieser Brief von
Dir.

All das ist wichtig. Es hat Bedeutung.
So, wie es Bedeutung hat, dass Annie Ernaux von ihrer Abtreibung erzählt, von
all der Angst und den physischen Qualen, die damit verbunden waren. In einem
anderen Land, in einer anderen Zeit. In einem Frankreich, das sich von ihr
erzählen lassen muss, was für ein Land es war. Weil es so blind war für den
alltäglichen Schrecken junger Mädchen, so verhärtet und patriarchal, dass es
Jahrzehnte brauchte, um seine Kinder davon zu befreien. Jahrzehnte voller
Protest. Jahrzehnte voller Geschichten. Erzählter Geschichten, wie die Deiner
Mutter, und geschriebener Geschichten wie Deinen. Geschichten von Einzelnen.
Die von einer Marziya handeln und von einer Raha.

Ich hoffe, dass ich das eines Tages
lesen kann!

Deine Freundin Elke