Motten: Ich krieg die Motten

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Der schlimmste Moment ist, wenn man bemerkt, dass die Gäste die Motten bemerkt haben, sie aber noch versuchen, die Tierchen zu ignorieren. Motten sind allerdings keine Freunde davon, ignoriert zu werden. Ich weiß nicht, warum sie das machen, aber sie schwirren am liebsten den Leuten dicht vor der Nase herum. Dann dauert es noch einen kurzen Augenblick, bis die Leute versuchen, die nervige Motte zu erlegen. Kaum haben sie das getan, sehen sie schon die nächste Motte. Und dann noch eine und noch eine. Und dann hat der Abend sein Thema gefunden. Nämlich dass unsere Wohnung von Lebensmittelmotten befallen ist. Und das ist während eines eigentlich gemütlichen Abendessens kein Aufputschmittel für die Stimmung am Tisch. Es ist ungefähr so, wie wenn in einem Restaurant plötzlich Kakerlaken durch den Gastraum wuseln. Aber Kakerlaken ziehen es vor, im Dunkeln zu bleiben, und Motten lieben das Licht.

Immerhin haben eine Menge Menschen etwas zu Lebensmittelmotten zu sagen. Jeder scheint schon mal ein Problem mit ihnen gehabt zu haben. Und dann lauscht man den Geschichten der Menschen, die den kompletten Inhalt ihrer Speisekammern auf den Müll gebracht haben – und dann kamen die Motten doch zurück.

Ich musste lernen, dass es genau genommen falsch ist, von Lebensmittelmotten zu sprechen. Wir tun das, um die Motten in der Küche von den Motten im Schlafzimmer abgrenzen zu können. Genau genommen versteht man unter Lebensmittelmotten mindestens drei verschiedene Arten: die braun-weiße Dörrobstmotte, die silbrig-graue Mehlmotte und den bräunlich-gelblichen Mehlzünsler.

Motten sind Schmetterlinge aus der Gattung der Zünsler. Zünsler heißen so wegen ihres unruhigen Fluges, ihr Name leitet sich ab vom heute veralteten Wort “zünzeln”, was so viel wie “flimmern” bedeutet. Die Raupen der verschiedenen Zünsler-Arten fressen sich etwa durch Mais, Buchsbaum und Kleiderschränke. Damit sind die Zünsler wohl die Schmetterlinge mit der kleinsten Fangemeinde. Für die meisten sind sie schlicht “Schädlinge”. Dabei haben sie mit den Menschen ziemlich viel gemeinsam. Sie sind Weltbürger, siedeln sich überall an und können sich an alle möglichen Umstände anpassen, am liebsten haben sie es warm. Man könnte auch sagen: Es sind die Begleiter, die wir verdient haben, als einzige Spezies auf dem Planeten, die gern bei 21 Grad mit einem gefüllten Speiseschrank zusammenlebt. Eine der bei uns am weitesten verbreiteten Arten ist die Dörrobstmotte. Sie stammt vermutlich aus dem Mittelmeerraum oder dem Nahen Osten, wurde mit Nahrungsmitteltransporten exportiert und lebt heute überall dort, wo es was zu essen gibt. Meistens werden die Tiere in Lebensmitteln eingeschleppt, etwa in einer Packung mit Haferflocken, die nicht mehr ganz vegan sind.

Der Insektenforscher Friedrich Zacher war einer ihrer frühen Erforscher und Bekämpfer. Sein Standardwerk Die Einwirkung oberflächenaktiver Stoffe auf Insekten. Die Dörrobstmotte und die Kakaomotte von 1938 enthält eine beeindruckende Aufzählung der Nahrungsquellen von Dörrobstmotten: getrocknete Früchte, Samen von Zirbelkiefer, Kümmel, Klee, Spargel, Lupine und Schwarzwurzel, Mandeln, Nüsse, Esskastanien, Bohnen, Erbsen, Linsen, Schokolade, Nougat, Kakao, Johannisbrot, Knoblauchzehen, Maismehl, Malz, Kekse, Brot, Paprika, Biskuit, Nudeln, Pelze, alte Bücher, Sojakuchen und Getreide. Dagegen ist sogar die kleine Raupe Nimmersatt mit ihrer Diät aus unter anderem Kuchen, Obst und Früchtebrot ein Kostverächter. Zusätzlich erklärte Zacher, die Dörrobstmotte schätze auch Drogen wie das LSD-haltige Mutterkorn und den psychoaktiven Stechapfel. Der Insektenforscher Friedrich Swatonek ermittelte außerdem in den Siebzigerjahren, dass die Larven der Dörrobstmotte sich sogar in Cayennepfeffer entwickeln können. Wir leben also mit einem Insekt zusammen, das so ungefähr alles frisst, seine Kinder in Chili bettet und mehr Drogen verträgt als Johnny Depp. Wie soll man das schlagen?

Ich schlage mit einem Küchenhandtuch. Motten kann man leicht erwischen. Leider hinterlassen sie sehr unschöne Flecken an der Wand. Und es sind ohnehin zu viele. Ich schmeiße schubladenweise Lebensmittel weg, die Motten bleiben. Ich brenne alle Ritzen mit dem Föhn aus, die Motten bleiben. Als Nächstes mache ich also das, was jeder Deutsche macht, wenn er nicht weiterkommt: Ich gehe in den Baumarkt. In meinem Baumarkt gibt es ein eigenes Regal zur Schädlingsbekämpfung. Hier sind auf den Packungen alle Feinde der Menschheit versammelt: Schaben und Silberfischchen und Ameisen und Mäuse. Die Mäuse auf den Etiketten sehen anders aus als die Mäuse, die wenige Meter weiter in der Zooabteilung verkauft werden, struppig und widerborstig. Es wirkt so, als wären hier Grafiker am Werk gewesen, die vorher Filmplakate für Horrorfilme gemacht haben. Auch die Horrormotte ist zu sehen – auf dem Etikett von Mottenfallen.

Die Klebefallen sind mit Duftstoffen versetzt, sogenannten Pheromonen; sie sollen die Mottenmännchen anlocken, die anschließend daran kleben bleiben. Allerdings sind die Fallen, so steht es auf der Packung, nur für das “Mottenmonitoring”. Aber zum Mottenmonitoring, also zum Feststellen, wie stark der Befall ist, brauche ich gar keine Klebefallen, ich muss mich nur mit Gästen zum Abendessen setzen.

In Betrieben, in denen Motten richtig zuschlagen, in Bäckereien oder Getreidemühlen etwa, hilft man sich mit Kieselerde-Verbindungen, die die Tiere innerlich austrocknen. Im Internet finde ich ein Spray für den Hausgebrauch. Die Motte darauf sieht aus wie die Fledermaus im Batman-Symbol, nur eben als Motte. Es verspricht “Knock-Down-Wirkung”. Eine Waffe in einem epischen Krieg zwischen Mensch und Motte. Ich kaufe es dann doch nicht. Ich kaufe eine elektronische Fliegenklatsche.

Das ist ein Gerät, das aussieht wie ein Squash-Schläger, aber dazu dient, Insekten mit einem Hochspannungsblitz zu verschmurgeln. Mit diesem Gerät ziehe ich dann jeden Tag in die Schlacht. Ich fuchtele mit der Klatsche durch die Luft, es blitzt, es brutzelt, es raucht, es riecht nach verbranntem Insekt. Aber es gibt immer noch Motten, der Luftraum in der Küche füllt sich mit Zünslern. Immer wenn ich sie betrete, sind meine Augen nach oben gerichtet, und ich suche die Decke nach Geschwirre ab. Ich bin jemand, der normalerweise Fliegen aus Swimmingpools rettet. Aber bei Motten gibt es nur noch Hass.

Eines Tages höre ich von Schlupfwespen, das sind kleine Insekten, wenige Millimeter groß, die ihre Eier in Motteneier injizieren. Die Larven der Schlupfwespe leben dann von den Motteneiern, werden größer und machen sich schließlich selbst auf die Suche nach neuen Motteneiern.

Man kann Schlupfwespen per Post in kleinen Briefchen ordern, die sind mit Hunderten Eiern bestückt, aus denen die Tiere nach und nach herauskriechen. Schon nach wenigen Tagen bemerke ich weniger Motten. Manchmal sehe ich die kleinen Wespen herumkrabbeln. Sie sind mir sofort sympathisch. Im Begleitbrief zu der Lieferung ist von “Nützlingen” die Rede. Sie sind unterwegs in eigenem Interesse – aber vor allem in meinem Interesse. Ich nutze sie ja aus. Das macht mir ein schlechtes Gewissen. Denn wenn keine Motteneier mehr da sind, geht die letzte Generation zugrunde. Die Schädlinge werden tot sein, die Nützlinge werden tot sein – übrig bleibe nur ich.

Am Ende würden sich Motten und Schlupfwespen darauf einigen können, dass der wahre Schädling ich war.