New York: Warum bloß New York?

Einmal im Jahr widmet das New York Magazine eine Ausgabe den Reasons to Love New York. Die Autorinnen und Autoren beschreiben darin mal mehr, mal weniger ernst gemeinte Gründe, warum sie diese Stadt lieben. Etwa, wie New Yorker die U-Bahn als Teil ihres Zuhauses betrachten. Man sieht sie ihre Fußnägel bemalen oder die blinden Scheiben als Spiegel nutzen, um sich zu rasieren. Man kann sie beim Krabben essen beobachten oder wie sie einen Work-out absolvieren.
Als das Stadtmagazin Ende 2020 die Reasons to Love veröffentlichte, war die Stadt erschüttert durch Zehntausende Pandemietote, den Exodus Hundertausender Einwohner, Hunderte dauerhaft geschlossener Läden und Restaurants, die Avenues waren wie ausgestorben und die Lichter des Broadway erloschen. Die Autoren schrieben damals über die Gründe ihrer Liebe in der Vergangenheit. Das ist jetzt vorbei! New York is back. Und die aufgezählten Gründe erinnern an frühere Zeiten. Nicht an die Jahre direkt vor der Pandemie, als das Management und die Spenden von Milliardär und Bürgermeister Michael Bloomberg die Stadt weit sicherer und aufgeräumter hinterlassen hatten, so dass sie begann, ein wenig wie eine Kopie seiner Heimatstadt Boston auszusehen. (Es gab sogar einheitliches Stadtmobiliar!) Sondern an die Jahre nach der Krise der Siebzigerjahre, als der Central Park und viele andere Gegenden zur No-go-Zone wurden.
Ich hingegen könnte viele Gründe aufzählen, warum man New York derzeit nicht lieben kann. Oft habe ich in dieser Kolumne über die Missstände berichtet: über Obdachlosigkeit; Kinder, die im Kreuzfeuer von Gangs sterben; Hunger; die Schlange der Menschen, die bei der Essenstafel der Kirche in meiner Nachbarschaft anstehen und die wieder um mehrere Häuserblocks geht; extreme Mieten, obszöne soziale Ungleichheit. Ratten.
Bei all dieser Kritik werde ich oft gefragt, was mich in dieser Stadt noch hält. Ich rede dann gerne von der Energie, die man hier spürt. Etwa 800 verschiedene Sprachen werden in New York gesprochen. Und es gibt fast genauso viele Glaubensrichtungen, denen die New York Times dieses Wochenende eine Geschichte widmete. Den Melting Pot, den Schmelztiegel, der so gerne im Zusammenhang mit New York zitiert wird, den gibt es zwar nicht. Die verschiedenen Gemeinschaften leben weitgehend unter sich. Und doch: Energie entsteht durch die Reibung, wenn so viele unterschiedliche Kulturen und Individuen nebeneinander leben.
Ich lerne fast jeden Tag etwas Neues, durch zufällige Begegnungen oder überhörte Gespräche. Dass New Yorker sich in der U-Bahn zu Hause fühlen, merkt man auch daran, dass sie ihre intimsten – und ich meine intimsten – Angelegenheiten dort am Telefon diskutieren. Oft würde ich gerne wissen, wie es weitergeht. Etwa in dem Fall, als die Diskussion offenbar um eine Transaktion ging, die sehr nach Insiderhandel klang. Leider stiegen die Betreffenden vor mir aus und ich wäre aufgefallen, wenn ich weiter an ihnen drangeblieben wäre. Ein anderes Mal wartete ich spät abends auf der Plattform, als ein junger Mann mich ansprach. Er sei Kanalisationspirat, stellte er sich vor. Zusammen mit seinem Bruder hob er nachts die Gullydeckel, um in der Kanalisation nach Fundstücken zu suchen. “Sie glauben gar nicht, wie viele Diamantringe wir schon gefunden haben”, sagte er. Tausende Dollar hätten sie schon zusammenbekommen. In seiner Hand hielt er tatsächlich einen Ring mit einem Stein, der unter den Neonröhren der Station aufblitzte.
Was das Leben hier spannend macht, ist das Unerwartete. Das ist so ansteckend, dass man Dinge ausprobiert, die man sich woanders nie zugetraut hätte. Wie mein – kurzer und nicht besonders erfolgreicher – Versuch als Stand-up-Comedian. Es gibt einen Grund, warum New York für so viele ein Sehnsuchtsort ist. Die Stadt bietet die Chance, sich neu zu erfinden. Unbeobachtet von denjenigen, die einen von früher kennen.
Manchmal hat man jedoch den Eindruck, die Stadt ist eine Hölle von neun Millionen Egoisten. Die beim Tod ihres Nachbarn vor allem daran denken, ob nun dessen Wohnung frei wird. Wer hier lebt – und nicht Multimillionär ist – darf nicht zimperlich sein. Um so bemerkenswerter sind die vielen Momente, in denen sich New Yorker solidarisieren. Wie Camille Napoleon, die Migranten aus Süd- und Zentralamerika am Busbahnhof Port Authority willkommen heißt und sie zu sich nach Hause nach Manhattan nimmt. Dort schlafen sie zu fünft auf dem Sofa und dem Boden im Wohnzimmer, bis sie eine eigene Bleibe gefunden haben. Oder meine Nachbarin Miriam, die während der Pandemie einen Community-Kühlschrank regelmäßig mit selbstgekochten Mahlzeiten füllte, für all diejenigen, die nichts zu essen hatten. Und die im vergangenen heißen Sommer eine Gießkannengemeinschaft in unserer Straße startete, weil die Stadt zwar junge Bäume gepflanzt hatte, aber keine regelmäßige Bewässerung vornahm.
Wiegen diese Gründe all die Anstrengungen und Gefahren auf, die der Alltag in dieser Metropole mit sich bringt? Den buchstäblich hohen Preis, hier zu leben? Schließlich ist laut dem Economist New York neben Singapur die teuerste Stadt der Welt. Mehr als 20 Jahre wohne ich nun hier, durch alle Desaster hindurch, die New York in dieser Zeit heimgesucht haben, angefangen von den Anschlägen des 11. September, über die Finanzkrise 2008, den Sturmfluten von Sandy 2012 bis zur Pandemie. Und meine Antwort lautet immer noch: Ja. Und nun gehe ich Weihnachtsgeschenke kaufen und dann besuche ich die Chanukka-Feier von Freunden. Da zünden wir zusammen ein Licht für die Hoffnung an. Happy Holidays allen!