Mutterschaft und Bräuche: Mama muss sich ausruhen, sonst passiert ein Unglück

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Gerade zwischen den Jahren, wenn Schulhort und Kindergärten geschlossen sind, Kinder, Haustiere, Partner und Großeltern unter demselben Dach herumlungern und den ganzen Tag Hunger oder Streit haben, kommt Frauen ihre alltägliche Care-Arbeit wie Wischen bei strömenden Regen vor. Die Gewissheit, dass das ungerecht ist, macht es nicht besser: Mütter sind eben die Verliererinnen der vergangenen pandemischen zwei Jahre. Berufstätige Frauen mit Kindern fühlen sich um acht Prozent mehr belastet und erschöpft als andere Bevölkerungsgruppen. Das geht aus einer bislang unveröffentlichten Erwerbspersonen-Befragung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) hervor. Mütter tragen die Hauptbetreuungslast, übernehmen trotz Beruf immer noch zwei Drittel der Hausarbeit, müssen auf Erwerbsarbeitszeit zugunsten der Pflege ihrer Liebsten verzichten, fallen in die Teilzeitfalle und alte Geschlechterrollen zurück und bangen auch nach einem Leben voller Arbeit (für andere) und dem Verzicht auf die eigenen Träume um ihre Rente. 

Natürlich sollten sich alle Menschen zwischen den Jahren ausruhen dürfen, allen voran aber Mütter und Frauen, die auch dann noch Äpfel aufschneiden, fiebrige Kinderköpfe streicheln und vorlesen, wenn sie selbst längst ins Bett gehören. Selbstfürsorge ist eine schwierige Sache, wenn der Fluss des Lebens ein reißender Strom voller Pflichten ist. Und so scheint die einzige Lösung, sich und andere Frauen zu ihrem Erholungsglück zu zwingen und sei es, indem man sich auf Althergebrachtes und Übernatürliches beruft. Oder anders gesprochen: Ich kann erst dann aufhören, meinen Liebsten die Sachen hinterherzutragen, wenn ich sie davon überzeugt habe, dass Zuwiderhandlungen großes Unglück bringen. Fündig an Motiven werden Frauen in diesen Tagen in der großen bunten Ramschkiste der Esoterik und Volksmärchen, in der sich so manche Perle der Weisheit als Parabel für moderne Lebensführung finden lässt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich derzeit oft selbst publizierte Bücher über den altgermanischen Brauch der Raunächte auf den Bestsellerlisten bei Amazon und Co. finden – und entsprechende Räuchersets sogar im Drogeriemarkt um die Ecke zu kaufen sind. 

Wer Wäsche wäscht und aufhängt, droht der Tod

Die Raunächte sind eine alte germanische Tradition. Sie bezeichnen jene Zeit um die Jahreswende, in der alle Regeln der Natur außer Kraft gesetzt sind, Tiere sprechen können, die Säfte in die Pflanzen zurückkehren und die Welt langsam aus der Winterstarre erwacht. Die Raunächte beginnen am 21. Dezember mit der Wintersonnenwende und enden am Dreikönigstag, dem 6. Januar. In den toten Tagen zwischen den Jahren sollen sich der Legende nach vor allem Frauen ausruhen, keine Wäsche waschen, ihre geliebten Dinge sortieren und sich mit der Natur verbinden. So haben es unsere Vorfahren seit dem frühen Mittelalter gehalten oder es zumindest proklamiert. Es ist die Zeit, den goldenen Glanz der tief stehenden Sonne intensiver wahrzunehmen, Tage, an denen gefeiert und alle Arbeit auf ein Minimum unter Androhung mythischer Strafen reduziert werden soll. So verlangt es der Erzählung nach die germanische Göttin Perchta, auch als Frau Holle bekannt. Und wer will ihr schon widersprechen? Wer weiße Wäsche wäscht und aufhängt, läuft demnach Gefahr, sein eigenes Leichentuch für das kommende Jahr zu präparieren. Wer nicht in sich ruht und seine Kleinigkeiten und Befindlichkeiten in Ordnung bringt, wird sich in dieser übersinnlichen Zeit nicht von altem Ballast verabschieden und im neuen Jahr im Chaos versinken. Wer nicht genug schläft, kann seine Träume als Wahrsagung für das kommende Jahr nicht deuten. Heute finden sich im Internet und in Büchern nicht nur die alten Ideen, sondern auch moderne Abwandlungen: Wie wäre es mit einer schönen Atemmeditation? Oder einem leckeren Drei-Königinnen-Kuchen, einem Räucherritual oder einem täglichen Spaziergang durch den Wald in diesen Tagen? 

Kitsch und Magie sind vielleicht nicht jedefraus Sache und dennoch bitter nötig, um gerade burn-out-gefährdete Mütter immer wieder daran zu erinnern, dass sie sich ausruhen und selbst wiederfinden müssen. Christliche Bräuche und vorchristliche Traditionen können als Argumentationshilfe vor der Verwandtschaft und dem Partner dienen. Ähnlich der alten Hebammenregel, dass das Wochenbett nach der Geburt eines Babys sechs Wochen dauert. Manchmal werden solche weichen Vorschriften verspätet auch durch die Legislative gedeckt: Seit Dezember können etwa Frauen in Spanien gesetzlich verbrieft Menstruationsurlaub nehmen. Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, bedenkt man, dass die Medizin traditionell auf Männer ausgerichtet war und ist, was Frauen gezwungenermaßen zu anderen Mitteln greifen ließ. Laut einer repräsentativen Umfrage der Apotheken Umschau haben 60 Prozent aller Frauen schon mindestens einmal alternative Heilmethoden angewendet. Gerade in ihren Wechseljahren fühlen sich viele Frauen in der Medizin nicht gesehen, weil oft nötige Untersuchungen nicht von der Krankenkasse bezahlt werden. 

Esoterik als Ersatzdroge

Derweil boomt die Wellnessindustrie für die weibliche Zielgruppe. Unter dem Markennamen goop vertreibt etwa die Hollywood-Schauspielerin Gwyneth Paltrow allerhand Vitamindrops und Kollagenmasken. Und auch hierzulande gibt es Lifestylelabels, die Dinge wie Cannabisgels gegen Menstruationsbeschwerden vertreiben. Wo die medizinische Forschung versagt, bleibt Raum für oftmals unseriöse, dafür aber teure Angebote. Es werde Jahrzehnte brauchen, diesen sogenannten Gender-Data-Gap zu schließen, schreibt Caroline Criado-Perez in ihrem Bestseller Unsichtbare Frauen. Umso wichtiger ist es, dass überforderte Mütter sich in der Zwischenzeit ihre eigenen Auszeiten nehmen. Notfalls eben mit etwas Hexerei und Magie – was soll’s!