Berliner Quartett Die Enttäuschung im Neujahrskonzert

Im „ausland“, einem Club im Souterrain eines Altbaus im Prenzlauer Berg, hat das neue Jahr mit einer Enttäuschung begonnen. Nicht mit irgendeiner, versteht sich, sondern mit „Der Kompletten Enttäuschung“. Vor knapp dreißig Jahren gegründet, legte das Quartett um den Trompeter Axel Dörner und den Klarinettisten Rudi Mahall, eine große Werkschau vor: Sechs Alben hat Die Enttäuschung eingespielt, und an diesem ersten Abend im Januar brachten die vier Musiker bei einem Konzert vor ausverkauftem Haus die Stücke der Alben drei und vier auf die Bühne.
Enttäuschung, so Axel Dörner vor Beginn des Konzerts, könne ja gerade zu Anfang des Jahres auch etwas Positives bedeuten, das Schwinden der Illusionen nämlich, die Klärung des Blicks. Sonst sagt der Trompeter wenig, denn für alle Ansagen und Nicht-Ansagen – Titel der Stücke wurden nur widerwillig verraten oder aus dem Stand umbenannt – ist Rudi Mahall zuständig. Als geborener Conférencier veranstaltet er für das Publikum sogar ein heiteres Stückeraten: Einige der Kompositionen Dörners nämlich basieren auf Akkordfolgen von klassischen Jazz-Standards, und wer beim ersten dieser Stücke errät, welches Standard dahintersteckte, kann eine Nacht mit dem Trompeter gewinnen (in der er dem Gewinner oder der Gewinnerin ganz unverfänglich seine Platten vorspielen werde). Aber natürlich kommt niemand auf „How High the Moon“, denn schließlich gibt es bei der „Enttäuschung“ kein eigentliches Harmonieinstrument, auf das man sich beim Hören-Raten konzentrieren könnte.
Zwischen Tradition und Free Jazz
Die Quartett-Besetzung ohne Klavier geht zwar auf Ornette Colemans Quartett zurück, aber auch wenn man das, was Die Enttäuschung spielt, unter Free Jazz subsumieren könnte, klingt die Band doch überhaupt nicht nach „A Shape of Jazz to Come“. Näher steht ihr der Bebop Charlie Parkers und Dizzy Gillespies, zumal Die Enttäuschung gemeinsam mit dem Pianisten Alexander von Schlippenbach 2005 die erste Gesamteinspielung der Werke Thelonious Monks vorgelegt hat. Aber auch der Sound von Louis Armstrong und Benny Goodman, der von Marching Band und Swing-Orchester, blitzt immer wieder auf, denn die Musik der vier Berliner kommt ganz aus den Beinen.
Aber es ist ein ganz eigener, ein europäischer Swing, der in dieser Musik steckt, vielleicht sogar ein spezifisch Berlinischer. Es ist der Gang jener, die die Schönhauser Allee und die Hermannstraße entlanglaufen, es ist das Rattern der Berliner U-Bahn, das Kreischen der Tram in den Kurven, das man in den Stücken der Band hört. Mahall und Dörner (beide mit dem renommierten SWR-Jazzpreis ausgezeichnet) spielen mit Michael Griener am Schlagzeug und Jan Roder am Bass eine durch und durch urbane Musik, in der die schnellen Dialoge, das Flirten und Feixen jener zu hören sind, die sich zufällig auf der Straße begegnen, Sätze, die aus dem fahrenden Auto gerufen werden, das Schellen aufgeregter Fahrradklingeln (Griener), das Hupen der Taxis (Dörner), das Wummern der Boxen im Görlitzer Park (Roder). Ob es rattert oder knattert, quietscht oder fiept: Die Musik ist immer wieder geräuschhaft, aber selbst in Momenten, die etwas Kakophonisches an sich haben, hören die Füße nicht auf zu zucken, meint man noch immer, den Bürgersteig unter den Sohlen zu spüren.
Ein Lied namens „Schienersatzverkehr“
Nicht zufällig heißt eines der vielen kaum zweiminütigen Stücke „Schienenersatzverkehr“. Eine schnelle Zigarette, dann geht’s weiter. Wohlklang kommt hier, zwischen den nackten Betonwänden des „ausland“, nicht auf. Aber es geht auch niemals komplett in die andere Richtung, denn der reine Lärm ist den Vieren ebenso fremd wie der schöne Ton. Das ist keine Musik der Extreme, kein Existenzialismus, kein politisches Statement, sondern eher eine Art musikalische Straßenfotografie, häufig witzig und immer gewitzt. Viele der vertrackten Themen ähneln Knobelaufgaben – die in der Improvisation dann nicht aufgelöst, sondern lustvoll an die Wand gepfeffert werden.
Mit der Schärfe und den spitzen Ellenbogen New Yorks hat Die Enttäuschung nichts am Hut. Ihre Musik ist durchaus rauh, im Kern aber freundlich, licht und hell. Trompete und Klarinette reagieren aufeinander ebenso schlagfertig wie die Musiker auf Fragen aus dem Publikum: Als jemand wissen möchte, in welcher Tonart denn das nächste Stück steht, lachen Dörner und Mahall und sagen: In der chromatischen Tonart. Es mag schräg sein, was diese band spielt, aber schief ist hier nichts. Im fröhlichen Zick-Zack umkurvt man hernach die Hubbel im Kopfsteinpflaster der Lychener Straße und blickt eine Spur zuversichtlicher ins neue Jahr.
Source: faz.net