Es fehlen die, die „das Leben am Laufen halten“
Der deutsche Arbeitsmarkt konnte im Jahr 2022 stellenweise einen kräftigen Aufbau an Jobs verzeichnen. So ist beispielsweise die Nachfrage nach Lagermitarbeitern und Fachkräften für Lagerlogistik um 195 Prozent nach oben geschnellt. Kaufmännische Mitarbeiter und Sozialpädagogen wurden fast um zwei Drittel häufiger gesucht als im Vorjahr. Bei Pflegefachkräften wurde ein Plus von 55 Prozent verzeichnet, bei Mechatronikern von 54 Prozent. Die Zahl der ausgeschriebenen Verkäufer-Stellen stieg um 52 Prozent zum Vorjahr. Diese Daten gehen aus einer Auswertung der Recruiting-Plattform StepStone hervor, die WELT exklusiv vorliegt.
Der Grund: Trotz Krise suchen viele Unternehmen händeringend nach Personal. Die Zahl der offenen Stellen liegt bei annähernd zwei Millionen. „Arbeiterlosigkeit“ nennt Tobias Zimmermann, Arbeitsmarktexperte bei StepStone, den allgegenwärtigen Mangel an Personal. Wie ausgeprägt die Engpässe inzwischen auch in Berufen sind, die klassischerweise nicht mit Fachkräftemangel in Verbindung gebracht werden, zeigt die detaillierte Auswertung von Jobangeboten auf der Plattform (gehört wie WELT zu Axel Springer).
Inzwischen würden in jedem Bereich Mitarbeiter gesucht, sagt Zimmermann. „In den vergangenen Monaten sehen wir eines ganz deutlich: Die Arbeiterlosigkeit hat den deutschen Arbeitsmarkt erreicht.“
Das beschränke sich längst nicht mehr nur auf sehr spezialisierte Profile wie IT-Experten oder Software-Entwickler. „Stark gefragt sind Mitarbeiter, die das alltägliche Leben am Laufen halten.“ In manchen Bereichen habe die Corona-Pandemie wie ein zusätzlicher Katalysator gewirkt. „Menschen in der Logistik sind so stark nachgefragt wie nie, auch die Nachfrage nach Pflegekräften reißt nicht ab“, sagt Zimmermann, „und das wird so bleiben.“
Dieser punktuelle Job-Aufbau spiegelt sich auch in den aktuellen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA). So ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung deutlich gestiegen: im Vorjahresvergleich von Juni 2021 auf Juni 2022 um 643.000 auf 34,45 Millionen. Sie liegt damit um 1,04 Millionen über dem Wert aus dem entsprechenden Monat im Vor-Corona-Jahr Juni 2019. Die gesamte Erwerbstätigkeit beläuft sich nun auf 45,57 Millionen im Jahresdurchschnitt 2022 und stieg damit um 589.000.
„Das Risiko, langfristig arbeitslos zu werden, ist trotz der Krise eher niedrig“, sagt Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), gegenüber WELT. „Grund ist die weiterhin hohe Arbeitskräftenachfrage.“
„Nicht mehr Arbeitslosigkeit ist das Problem“
Anders formuliert: Wer seinen Job verliert oder kündigt, findet schneller eine neue Anstellung als in zurückliegenden Jahren. „Die arbeitsmarktpolitische Debatte hat sich gedreht“, sagt Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger zu dieser Entwicklung. „Nicht mehr Arbeitslosigkeit, sondern Fach- und Arbeitskräftemangel sowie Kompetenzanpassungen für Beschäftigte sind die aktuellen Herausforderungen.“
Dass die Gefahr sinkt, in der Langzeitarbeitslosigkeit zu landen, zeigt auch das sogenannte Zugangsrisiko – also jenes Risiko, aus Beschäftigung heraus im nächsten Monat arbeitslos zu werden. Es bezieht die Arbeitslosmeldungen von zuvor sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auf den Beschäftigungsbestand des jeweiligen Vormonats.
Danach meldeten sich im Jahresdurchschnitt 2022 nach vorläufigen Angaben im Monatsschnitt 0,51 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeitslos. Damit ist das niedrigste Jahresniveau seit 2008 erreicht, dem ersten Jahr der Erfassung dieses Werts. Zum Vergleich: Im Jahresmittel 2019 lag die Quote noch bei knapp 0,65 Prozent und im Jahr 2008 bei 0,83 Prozent.
Auch zeigt sich, dass es sich bei den Arbeitslosen um keine statische Gruppe handelt. Vielmehr kommt es zu massenhaften Abgängen und Zugängen – allerdings mit einer über die Jahre sinkenden Tendenz. Allein im Jahr Krisenjahr 2020 gab es 6,45 Millionen Zugänge in die Arbeitslosigkeit und 5,97 Millionen Abgänge.
Im Durchschnitt der Jahre 2010 bis 2019 lagen die Werte bei jährlich 7,78 Millionen Zugängen und 7,88 Millionen Abgängen. Zwar ist in den letzten Monaten wieder ein leichter Anstieg der Zugänge zu verzeichnen. Dieser ist laut BA hauptsächlich auf ukrainische Geflüchtete zurückzuführen.
Angesichts der Krise zeige sich der Arbeitsmarkt stabil, sagt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Das sei „dem großen Engagement der deutschen Unternehmen, aber auch dem umfassenden Krisenmanagement der Bundesregierung zu verdanken“, meint Heil. So waren im Dezember rund 2,45 Millionen Menschen arbeitslos. Damit stieg die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum November saisonbedingt um knapp 20.000 Personen. Die Arbeitslosenquote stieg um 0,1 Prozentpunkte auf 5,4 Prozent.
Die Zahl der Flüchtlinge, die in Arbeit finden, steigt
Im Vergleich zum Dezember 2021 stieg die Zahl der Arbeitslosen allerdings um 124.000 an. Laut Ministerium ist das auf die Erfassung Geflüchteter aus der Ukraine in den Jobcentern zurückzuführen. Ohne sie läge die Arbeitslosigkeit unter dem Vorjahresniveau.
Im Dezember waren 184.863 ukrainische Staatsangehörige arbeitslos gemeldet und damit rund 177.000 mehr als vor Kriegsbeginn. Seit September sind diese Zahlen allerdings rückläufig, damals wurde mit 204.782 der Höchststand erreicht. Das bedeutet: Die Zahl der Flüchtlinge, die in Arbeit finden, steigt.
Noch etwas anderes sorgt für die stabilen Quoten: Die Zahl der Menschen in Kurzarbeit hat im Jahresdurchschnitt zwar stark abgenommen – infolge der Krise sind aber in der zweiten Jahreshälfte wieder deutliche Anstiege zu verzeichnen. Insbesondere die energieintensiven Industrien wie die Auto- und Chemiebranche verzeichnen kräftige Zuwächse, wie WELT kürzlich berichtete.
Nach ersten Schätzungen der Statistik der BA betrug die jahresdurchschnittliche Kurzarbeiterzahl im Jahr 2022 rund 430.000, nach 1,85 Millionen Personen im Durchschnitt im Jahr 2021 und 2,94 Millionen im Jahr 2020. Andrea Nahles, die Chefin der BA, hatte angesichts der jüngst steigenden Tendenz einen vereinfachten Mechanismus gefordert – denn die Bearbeitung bindet zu viel Personal und sorgt damit für hohe Kosten. Auch Arbeitgeberpräsident Dulger fordert eine „Entbürokratisierung“.
Ob sich die Entwicklung auch im Jahr 2023 fortsetzen wird, hängt laut Ökonomen vor allem von den äußeren Umständen, wie etwa den Energiepreisen und den gestörten Lieferketten ab. Das IAB rechnete in der jüngsten Jahresprognose mit einem leichten Anstieg der Arbeitslosenquote um 0,1 Prozent – gleichzeitig sei wegen der hohen Arbeitskräftenachfrage mit einem Beschäftigungszuwachs von 0,9 Prozent zu rechnen.
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Source: welt.de