Silvester: Hängt die Gewalt mit gescheiterter Integration zusammen?

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Dass die AfD die Debatte über die Böllerexzesse in der Silvesternacht umgehend zum Anprangern einer angeblich fehl­geleiteten Migrationspolitik nutzte, war nicht überraschend. Das bekommt die rechte Partei bei fast jedem Thema schnell hin. Doch dieses Mal wurde die Frage, welcher Zusammenhang zwischen den Angriffen mit Feuerwerkskörpern auf Sicherheitskräfte und der Herkunft der Täter besteht, schon bald über die Parteigrenzen hinweg erörtert.

Reiner Burger

Politischer Korrespondent in Nordrhein-Westfalen.

Eckart Lohse

Leiter der Parlamentsredaktion in Berlin.

Obwohl noch keine genauen Informationen darüber veröffentlicht wurden, um wen es sich bei den Tätern im Einzelnen handelt, so hat sich doch durch Videoaufnahmen und Berichte über Schwerpunkte der Gewalt in Viertel mit hohem Migrantenanteil der Eindruck verfestigt, dass hier ein Zusammenhang nicht ganz von der Hand zu weisen ist.

Vergleichsweise vorsichtig formulierte es der Sozialdemokrat Dirk Wiese, einer der stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion und Sprecher des bisweilen als „konservativ“ bezeichneten Seeheimer Kreises. „Die Gewalt­exzesse an Silvester machen deutlich, dass die Ursachen viel tiefer liegen und nicht auf den Jahreswechsel beschränkt sind“, sagte Wiese im Gespräch mit der F.A.Z. Ein „Böllerverbot“ allein helfe da nicht, sonst gehe die Debatte am Kern vorbei.

Gesprochen werden muss laut Wiese vielmehr über „mangelnde gesellschaftliche Teilhabe, soziale Abgehängtheit mit Zukunftsängsten und Fehler bei der Integration in einigen Stadtteilen“. Der „rote Faden eskalierender Gewalt“ sei überall im Land eine zunehmende Respektlosigkeit gegenüber beispielsweise Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften. „Teilweise sehen wir sogar eine um sich greifende Staatsverachtung.“

Spahn: „Da geht es um ungeregelte Migration“

Noch deutlicher wurde einer von Wieses Pendants in der Unionsfraktion, de­ren stellvertretender Vorsitzender Jens Spahn. „Da geht es eher um ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat statt um Feuerwerk“, sagte der CDU-Bundestagsabgeordnete und frühere Bundesgesundheitsminister dem Portal t-online. Die Politik müsse sich fragen, warum Silvesterfeiern immer wieder an denselben Or­ten mit den gleichen Beteiligten so eskalierten. Die „unsäglichen“ Angriffe auf Einsatzkräfte sind nach Meinung Spahns auch ein Beleg für die Schwäche des Staates.

Auch der nordrhein-westfälische In­nenminister Herbert Reul (CDU) hält nichts davon, das Thema Migrationshintergrund aus der Debatte auszublenden – doch wählt er nicht so kantige Worte wie der Berliner Oppositionspolitiker Spahn. „Die Randalierer waren offenbar ganz überwiegend junge Männer in Gruppen, häufig mit Migrationshintergrund“, sagte Reul der F.A.Z. Am exakten statistischen Überblick über die Herkunft der insgesamt 233 in der Silvesternacht in Ge­wahrsam genommenen Personen arbeiten die nordrhein-westfälischen Polizeibehörden noch; er soll erst in einigen Ta­gen vorliegen.

Wie die F.A.Z. aus Sicherheitskreisen erfuhr, steht aber schon fest, dass sich unter den Verdächtigen eine ganze Reihe von Personen aus Rumänien und Bulgarien oder mit deutsch-türkischer oder deutsch-libanesischer Doppelstaatsbürgerschaft befinden. Auffällig sei zudem, dass es nicht quer über Nordrhein-Westfalen verteilt zu Ausschreitungen ge­kommen sei. „Es gab keine Tumultlagen in Paderborn, Münster, im Sauerland oder in Südwestfalen, dafür aber in oft schon einschlägig bekannten Vierteln gerade auch, aber nicht nur von Städten im Ruhrgebiet“, hieß es aus Sicherheitskreisen.

In Nordrhein-Westfalen werden schon seit Jahren große Polizeikräfte eingesetzt, um Problemviertel, in denen etwa rivalisierende kriminelle Clans versuchen, ihre Macht- und Gebietsansprüche durchzusetzen, in den Griff zu bekommen. Es handelt sich um einen wichtigen Baustein eines Vorgehens, das Innenminister Reul markig „Null-Toleranz-Politik“ nennt. Trotz mancher Erfolge kommt es jedoch etwa in Essen immer wieder zu Zwischenfällen mit Migrantengruppen. Silvester gilt auch anderenorts, etwa in den Partyvierteln wie der Düsseldorfer Altstadt, ohnehin als Risikotag.

Nach einer Überblicksmeldung des Landesamts für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD) ging es beim jüngsten Jahreswechsel in Hagen, Essen, Gelsenkirchen, Duisburg und Bonn am heftigsten zu. In Hagen errichteten vermummte Täter eine Straßenbarrikade, zündeten sie an und bewarfen eintreffende Rettungskräfte mit Feuerwerkskörpern. In Duisburg und Gelsenkirchen wurden Einsatzkräfte ebenfalls mit Böllern be­worfen.

Polizisten in Hinterhalt gelockt

Im Essener Stadtteil Freisenbruch mussten Polizisten erst eine Kette um Feuerwehrleute bilden, damit diese brennende Müllcontainer löschen konnten. Davor war der Löschtrupp durchgehend mit Pyrotechnik beschossen worden. In eine Art Hinterhalt wurden Einsatzkräfte in Bonn gelockt. Als sie brennende Müllcontainer löschen wollten, wurden sie von jugendlichen Randalieren mit Silvesterraketen und Steinen attackiert.

„Ich werde nie verstehen, warum man Polizisten, Sanitäter oder Feuerwehrleute angreift, die für unser aller Sicherheit im Einsatz sind“, sagte Reul. Der nordrhein-westfälische Innenminister geht davon aus, dass das Problem noch größer ist als statistisch erfasst, weil viele Einsatzkräfte Attacken erfahrungsgemäß nicht an­zeigten. „Ich werbe deshalb dafür, jede Gewalttat gegen Einsatzkräfte auch an­zuzeigen. Denn jetzt kommt es darauf an, dass die Strafe auf dem Fuße folgt und diese Chaoten die Konsequenzen ihres Handelns spüren.“

Sami Musa, FDP-Abgeordneter in der Hamburger Bürgerschaft, forderte eine bessere Integration statt Feuerwerksverboten. „Nach Angaben der Sicherheitskräfte handelt es sich bei vielen Angreifern um junge Männer mit Migrationshintergrund“, sagte Musa am Dienstag. Das sei „auch ein Schock für die große Mehrheit der Migranten, die gut integriert in Hamburg leben“. In Berlin, wo es in der Silvesternacht ebenfalls zu Gewaltausbrüchen gekommen war, wurde unterdessen mitgeteilt, dass die 103 festgenommenen Tatverdächtigen wieder freigelassen worden seien. Es gebe keine Haftgründe, sagte ein Sprecher der Berliner Polizei.

Source: faz.net