Vor hundert Jahren malte Max Ernst das „Rendez-vous des amis“

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Vor hundert Jahren vollendete Max Ernst ein großformatiges Gemälde mit dem Titel „Rendez-vous des amis“. Auf einer felsigen Anhöhe vor verschneiten Bergen und Gletschern sehen wir sechzehn Männer und eine Frau. Ihre Namen kann man den Schriftrollen in den unteren Ecken des Bildes entnehmen. Hier wird auch der Maler selbst aufgeführt. Es ist der gut aussehende Herr im grünen Anzug. Er sitzt bei Dostojewski auf dem Schoß.

Der Schriftsteller war 1922 schon vierzig Jahre tot und der weiter hinten stehende Raffael sogar schon vor vierhundert Jahren gestorben, doch alle anderen Dargestellten waren Ernsts Zeitgenossen: Arp, Baargeld und De Chi­rico kannte er schon länger, Paul ­Eluard und dessen Frau Gala traf er erstmals, als sie ihn im November 1921 in Köln besuchten. Daraus entstand eine leidenschaftliche Affäre mit Gala, die da­zu führte, dass Ernst ein Jahr später Frau und Kind verließ, um in Paris in einer Ménage-à-trois mit dem Ehepaar Eluard zu leben. In Paris freundete er sich dann auch mit den übrigen Protagonisten seines Gemäldes an, den Schriftstellern Aragon, Breton, Crevel, Desnos, Fraenkel, Morise, Paulhan, Peret und Soupault.

Dada verschwindet hinter dem Horizont

Nachdem die Namen der „Freunde“ aufgezählt sind, fragt sich als Nächstes, wer fehlt. Die Antwort ist offenkundig. Es fehlen alle, die noch dem Dadaismus zuneigen: Tzara, Picabia, Man Ray. Ribemont-Dessaignes ist zwar hinter Arp zu sehen, wird aber nicht namentlich genannt, Duchamp war meist noch in New York. Das Bild signalisiert also die Wende vom aggressiven Krawall der Kriegs- und Nachkriegszeit zur surrealistischen Erkundung des Unbewussten. Die meisten der Dargestellten trafen sich seit dem 25. September 1922 regelmäßig bei Breton in der rue Fontaine zu spiritistischen Séancen, bei denen sie sich in „Schlafzustände“ versetzten und poetische Texte hervorbrachten. Die verdrehten Augen bei einigen der Freunde bezeugen, dass diese sich in Trance befinden.

Auch in Gänze macht die Zusammenkunft einen somnambulen Eindruck. Das ist bei einem Gruppenporträt irritierend. Alois Riegl hatte diese Bild­gattung zwanzig Jahre zuvor eingehend analysiert und Rembrandts „Nacht­wache“ als ein Beispiel für deren höchste Entwicklungsstufe herausgestellt, weil die Figuren hier nicht additiv aufgereiht sind, wie es noch heute bei Fotos von Schulklassen oder Fußballmannschaften üblich ist, sondern in einem Handlungszusammenhang integriert wer­den. Genau das hat Max Ernst bewusst vermieden. Alle Personen sind völlig isoliert, und alle verharren in seltsamen Posen und Gesten, mit denen sie sich nicht an ihresgleichen wenden, sondern nur an uns, die wir sie betrachten.

Eine Geste bleibt rätselhaft

Offenbar wollen sie uns etwas Wichtiges mitteilen. Bei den drei Herren, die in der Mitte sitzen, fällt auf, dass alle den kleinen Finger ihrer rechten Hand so weit wie möglich nach unten abspreizen. Im praktischen Umgang mit den Dingen ist so etwas eigentlich nie nötig. Da die Handhaltung bei allen genau identisch ist, verstärkt sich der Eindruck, es müsse sich um ein geheimes Zeichen handeln. Man hat vermutet, es hier mit Gebärdensprache zu tun zu haben, was auch plausibel wäre, weil der Vater von Max Ernst an einer Schule für Taubstumme arbeitete, doch bislang hat niemand die Bedeutung des abgespreizten Fingers dechiffriert.

Das ist nicht unbedingt ein Indiz für das Versagen der Bildinterpretation. Selbst wenn man in Lehrbüchern (wie der „Chirologia“ von Bulwer) eine solche Geste fände, wäre damit im Grunde nichts gewonnen. Als man in einem alten Heft der Zeitschrift „La Nature“ Vorlagen für das merkwürdige Objekt mit den kleinen Kugeln und dem zerteilten Apfel entdeckte, hat das zum Verständnis des Bildes auch nichts Wesentliches beigetragen.

Es widerspricht den Prinzipien des Surrealismus, das Rätselhafte des Bild durch seine Deutung zu vernichten. Daher ist es auch kein Wunder, dass Breton von seiner Audienz bei Sigmund Freud am 10. Oktober 1921 enttäuscht war. Freud wollte die verschlüsselten Botschaften des Unbewussten entziffern, um Schizophrene und Paranoiker aus dessen Bann zu befreien. Die Surrealisten wollten – genau umgekehrt – die Wirkungen des Unbewussten verstärken, um ungeahnte neue Erfahrungen zu machen. Sie propagierten eine kontrollierte Nutzung derselben psychischen Energien, die von den Patienten der Psychoanalyse nicht mehr gebändigt werden können.

Surrealisten und Verrückte

In diesem Sinne sollte man das Gemälde von Max Ernst verstehen. Keine Angst, sagen seine siebzehn Protagonisten, wir tun nur so, als wären wir verrückt, wir verwenden Gesten, die niemand versteht, aber das ist nur ein Spiel. Sehen Sie doch, wie wir auftreten. Wir präsentieren Ihnen eine inszenierte Revue. Unsere Anzüge sind alle gleich geschnitten, doch wir tragen sie in zehn verschiedenen Farben, immer mit weißem Hemd und Krawatte. Und wir haben alle dieselben auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhe und dieselben graugrünen Socken. Oder sind es Gamaschen? Oder gar Maschen? Schauen Sie: Der einzige Unterschied zwischen einem Surrealisten und einem Verrückten besteht darin, dass der Surrealist nicht verrückt ist.

Source: faz.net