Wiedergelesen zum 100. Geburtstag: Jaroslav Hašeks „Schwejk“

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Nach dem verheerenden Stadtbrand vom 19. September 1869 war dies vermutlich der traurigste Tag in der Geschichte von Lipnice nad Sázavou. Am 3. Januar 1923 ist hier der tschechische Schriftsteller Jaroslav Hašek verstorben. Er war nicht mal vierzig Jahre alt. Hašek, der Bohemien. Hašek, der Anarchist. Der Rotarmist, Bigamist, Modernist. Hašek, der Freigeist, der Meister der vielen Mystifikationen, der geniale Schriftsteller, der der mitteleuropäischen Literatur vermutlich die bekannteste Figur geschenkt hat: den guten Soldaten Schwejk.

Das Programm zum hundertsten Todestag sieht so aus: Erst treffen sich an Hašeks kleinem Haus in Lipnice seine Verehrer. Und auch seine Nachfahren, die hier im Ort leben. Die Trauergemeinschaft zieht dann weiter zu seinem Grab unterhalb der Burg. Hier wird gesungen, getrunken und auch gelesen. Und sicher auch geweint. Aber noch viel mehr gelacht.

Denn Jaroslav Hašek kennt und schätzt man vor allem als Humoristen. Doch die letzten Tage seines Lebens in Lipnice waren alles andere als lustig. Hašek schaffte es nicht mehr in sein Wirtshaus „Zur Böhmischen Krone“, obwohl es nur ein paar Schritte waren. Seine Beine waren schwer, alles tat weh. Essen konnte er so gut wie gar nichts mehr. Ständig musste er sich übergeben. Nicht mal sein geliebtes Bier konnte er trinken. Was blieb, war Tee mit Milch. So lag er dann in seinem Haus im Schatten einer monumentalen Burgruine, die man schon von weither sieht und die Hašek als nicht gelungene Lokomotive beschrieben hat. Nur drei Monate hat der Schriftsteller hier gewohnt, zusammen mit seiner zweiten Frau Šura, die er in Russland kennen­gelernt hatte und in die gerade neu­gegründete Tschechoslowakei brachte. Ohne ihr zu sagen, dass er in Prag bereits eine Frau und auch einen Sohn hatte.

Er hatte vor nichts mehr Angst als vor der Einsamkeit

Doch Leute treffen, das wollte der kranke Hašek bis zuletzt. Es schien eher so, als hätte er vor nichts mehr Angst als vor der Einsamkeit. Und vor dem Verstummen. So lud er immer wieder seine Freunde zum Kartenspielen ein. Und um zu erzählen. Er träumte von einer Reise nach Spanien und erhoffte sich davon eine Verbesserung seines Zustandes. Er freute sich auf das Frühjahr. Auch wenn ihm bewusst war, dass es für ihn kein Frühjahr mehr geben würde.

Irena Dousková, Jahrgang 1964, schreibt über die letzten Monate, Wochen und Tage im Leben von Jaroslav Hašek in ihrem großartigen Roman „Bärentanz“, der auf Tschechisch 2014 erschienen ist. Dousková hält fest, dass es vor allem Männer sind, die Hašek lieben, auch diejenigen, denen sein „Schwejk“ geholfen hat, die Zeit beim Militär zu überleben. Dousková hatte sich schon als kleines Mädchen in Hašek verliebt. Seither las sie ihn immer wieder. Und auch immer wieder neu.

In ihrem Roman, der gänzlich in Lipnice spielt, schildert die Autorin Hašek als einen schwierigen, zugleich empfindlichen Charakter. Als einen zutiefst melancho­lischen Menschen, der bis zuletzt seinen Humor nicht verliert. Als einen alten schwerfälligen und kranken Bären, der dennoch ein wenig tanzen kann und für seine Freunde immer einen Scherz oder eine Anekdote parat hat. „Wenn man über Hašek nachdenkt“, sagt Dousková, „landet man sehr schnell bei all den Stereotypen, die bis heute kursieren. Man stellt sich gleich einen Bierkumpanen vor, der dauerhaft besoffen ist. Ja, er hat viel getrunken, doch Hašek war hochintelligent, sehr begabt und gebildet, und er war, glaube ich zumindest, auch ein sehr empfindlicher Mensch. Sonst hätte er nicht schreiben können, was er geschrieben hat.“

Doch wie viel Hašek ist hundert Jahre nach dem Tod des Schriftstellers in der Literatur seiner Heimat vorhanden? „Was den Humor angeht, da war die tschechische Literatur immer am stärksten. Und bei jedem tschechischen Autor, der einen guten Humor hat, spürt man im Hintergrund Jaroslav Hašek“, sagt Dousková. Sie erwähnt Karel Poláček, selbstverständlich Bohumil Hrabal, Josef Škvorecký und Emil Hakl.

Auch Hakls Bücher werden ins Deutsche meisterhaft von Mirko Kraetsch übertragen. Wenn man Hakl liest, hat man wie bei Hašek oder Hrabal das Gefühl, mit von der Partie zu sein. Emil Hakl schreibt womöglich die besten Dialoge der zeitgenössischen tschechischen Literatur, die unglaublich authentisch wirken. Ähnlich wie Hašek kann man auch bei Hakl den Humor von der Melancholie nicht trennen. Und auch Hakl hat einen tschechischen Bestseller geschrieben, ein schmales Buch über seine endlosen tragikomischen Gespräche mit seinem Vater. Auf Deutsch ist das längst auch verfilmte Buch unter dem Titel „Treffpunkt Pinguinhaus“ erschienen.

Josef Hašek, aufgenommen in den letzten Jahren seines Lebens

Josef Hašek, aufgenommen in den letzten Jahren seines Lebens : Bild: Ullstein

Wenn man Hakl, Jahrgang 1958, auf Jaroslav Hašek anspricht, fängt er an zu strahlen. Ähnlich wie Irena Dousková empfindet auch er, dass man Hašek oft nicht richtig versteht, zu vereinfacht interpretiert und auf Bier und die lustigen Kneipenanekdoten reduziert. So auch seinen Roman über Schwejk und seine verrückte Reise auf die Schlachtfelder vom Ersten Weltkrieg. Es sei eben eine Täuschung, dass der weltweit erfolgreichste und meistübersetzte Roman der tschechischen Literatur ein rein humoristisches Werk sei, sagt Hakl, und dieses Etikett habe dem Autor und seinem Werk geschadet. „Humor nehmen wir als etwas Erleichterndes wahr, was aber in diesem Fall nicht zutrifft. Schwejk ist wie ein Odysseus, der sich in den Kulissen der Weltapo­kalypse herumtreibt. Er ist eine Universalfigur im Sinne Kafkas.“

Die großen tschechischen Schriftsteller Hašek und Kafka

Ja, Jaroslav Hašek und Franz Kafka. Beide sind 1883 in Prag geboren. Kafka hat Hašek nur um ein einziges Jahr überlebt. Er starb am 3. Juni 1924. „Sie waren Zeitgenossen, aber damit hört die Ähnlichkeit auch auf. Hašeks Schwejk nimmt die Realität um sich vollkommen wahr und äußert sich auch dazu“, sagt Hakl. „Schwejk kommentiert die schreckliche Realität des Massenmords in scheinbar leichtem Ton. Doch dieser leichte Ton ist der einzige dünne Faden, der ihn bei Sinnen hält.“

Lipnice nad Sázavou ist ein kleiner, überschaubarer Ort auf halbem Weg zwischen Prag und Brünn. Eine Burgruine, eine Kirche und zwei, drei Kneipen. Hier weiß jeder alles über jeden. Und Ende August 1921, als Jaroslav Hašek aufschlägt, um hier zu bleiben, war es sicher nicht anders. Ein berühmter Autor aus Prag, der in die Provinz geht. Das war ein Ereignis.

Hier ist man bis heute stolz auf Jaroslav Hašek. Der Bürgermeister Zdeněk Rafaj kennt Hašeks Werk gut. Auch Rafaj spricht davon, wie aktuell „Schwejk“ heute ist, in der Zeit des brutalen russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Auch hierher, an diesen kleinen Ort mit nur sechshundertfünfzig Einwohnern, sind Dutzende Menschen aus der Ukraine geflüchtet.

Und auch in Lipnice kennt man die neueste Geschichte von Hašek und Schwejk, über die jetzt viele im ganzen Land lachen – wer weiß, womöglich der letzte großartige Scherz Hašeks, ein Gruß aus dem Jenseits an seine Landsleute. Sein letzter Tanz.

Was der Präsidentschaftskandidat Babiš nicht gewusst hat

Wenn der Milliardär und Populist Andrej Babiš im Januar die Wahl zum nächsten Präsidenten Tschechiens verfehlen sollte, wäre das ein wenig auch der Verdienst von Hašek, der sich über die Mächtigen ohnehin gern amüsiert hat. In der Adventszeit stellte sich Babiš, so wie auch die anderen Kandidaten, Prager Schülern vor. Die Kinder hatten für Babiš ein paar Fragen vorbereitet. Darunter auch diese: Wie heißt das berühmteste Werk des Schriftstellers Jaroslav Hašek? Babiš musste passen. Ganz egal, dass er im Gespräch noch behauptet hat, dass der Mond ein Planet sei und die Milch im Magen einer Kuh entsteht – alles Kleinigkeiten, über die man hinwegsehen kann. Aber ein tschechischer Präsident, der Schwejk nicht kennt?

Unzählige Scherze und Spott folgten. Babiš hat es nicht gerettet, dass er eigentlich ein Slowake ist und umgehend ein Foto mit Buch und dem Versprechen, dass er den Roman sofort liest, gepostet hat. Das machte es nur noch schlimmer.

Was würde Hašek über heutige Populisten wie Babiš schreiben? Über Nationalisten wie Orbán in Ungarn? Oder Diktatoren wie Putin und seinen brutalen Krieg gegen die Ukraine?

„Jede Ideologie offenbart sich, wenn man sieht, wie gereizt sie auf den Humor reagiert. Was Hašek über den Krieg denkt und was er von den Diktatoren dieser Welt hält, das sieht man in seinem Buch über Schwejk ganz klar“, schreibt Irena Dousková. „Schwejk“ bleibt ein Roman über die bodenlosen Tiefen der mensch­lichen Dummheit. Auch ein Buch über den Zerfall der alten Monarchie. Und ein Antikriegsepos. Es ist ein aktuelles radikales und schonungsloses Buch, was man auch in der neuen deutschen Über­setzung von Antonín Brousek erfahren kann, die 2014 im Reclam Verlag erschienen ist und dem tschechischen Original viel näher kommt. „Die Abenteuer des guten Soldaten Schwejk im Weltkrieg“ ist das Werk in der Neuübersetzung neu betitelt. Eine feine Änderung, doch eine umso wichtigere. Nicht nur, weil es dem tschechischen Originaltitel entspricht. Schwejk ist tatsächlich nicht brav. Er ist gut, manchmal. Aber brav eigentlich nie.

Der Hašek-Pilgerort Lipnice

Vermutlich ist dies auch ein Thema bei der Konferenz, die um den 30. April in Lipnice zum Geburtstag von Jaroslav Hašek stattfindet, veranstaltet von der Stadt selbst, wie der Bürgermeister erzählt. Schließlich ist Lipnice ein Pilgerort für Hašek-Fans aus der ganzen Welt. Sie besuchen sein Haus, in dem sich heute ein kleines Museum befindet. Trinken ein Bier am Grab des Schriftstellers und landen dann in der Kneipe bei Gulasch und noch mehr Bier.

Das Gasthaus „Zur Böhmischen Krone“, in dem Hašek zuerst lebte und weite Teile von „Schwejk“ geschrieben oder diktiert hatte, ist heute im Besitz der Familie Hašek. „Manchmal kommen auch Schriftsteller und mieten sich im Hotel ein“, erzählt Martin Hašek, der Urenkel des Autors. „Manchmal bleiben sie sogar einen ganzen Monat bei uns und schreiben. Sie wollen sich von diesem Ort inspirieren lassen und versprechen, mir dann die Bücher zu schicken. Doch bis jetzt ist kein einziges Buch bei mir an­gekommen. So einfach ist es mit dem Schreiben wahrscheinlich doch nicht“, sagt er.

Eine Ausnahme gibt es: Irena Dousková und ihr „Bärentanz“. Wegen Hašek war Dousková mehrmals in Lipnice. Doch meistens pilgern einfach nur Leser hierher. Tschechen, Slowaken, Deutsche, Polen, Österreicher. Aber auch Japaner oder kürzlich eine Reisegruppe aus dem Norden.

Jaroslav Hašek mit seiner Ehefrau Jarmila Haškova, aufgenommen im Jahr 1908

Jaroslav Hašek mit seiner Ehefrau Jarmila Haškova, aufgenommen im Jahr 1908 : Bild: INTERFOTO

„Es war im Winter, ich fege gerade den Schnee von der Treppe, und plötzlich stehen sie da. Die Isländer“, erzählt Martin Hašek: „Die Gesichter blau und blass, alle wie erfroren. ‚Schwejk‘ lief in Island im Radio, und einer der Männer sagte mir, dass ihm das Buch in der ewigen Dunkelheit das Leben gerettet habe. Wir gingen gemeinsam an das Grab meines Urgroßvaters. Dann habe ich ihnen Gulasch warm gemacht und das Bier gezapft, und endlich haben die Gesichter die richtige Farbe bekommen. Die Sonne braucht man zum Leben nicht, doch das Bier schon.“

Martin Hašek schreibt keine Bücher. Aber wie selbstverständlich kann er Geschichten herzaubern, die in ein paar Sätzen und Bildern viel über die ganze Welt erzählen. Weil er weiß, dass man sich die schönsten Geschichten nicht ausdenken kann.

Zur Hundertjahrfeier gibt es Gulasch nach Hašeks eigenem Rezept

Der Urenkel ist meistens in der Küche zu finden. Für die Gäste zur Hundertjahrfeier wird er Gulasch zubereiten, nach dem Rezept seines Urgroßvaters. „Viele wissen es nicht, doch der Urgroßvater hat sehr gut gekocht. In seiner Zeit gehörte das Gasthaus der Familie Invald. Jaroslav hatte hier oben ein Zimmer. Immer wieder mischte er sich auch ins Kochen ein. Bis ihm Frau Invaldová mal sagte, er solle das Gulasch doch selbst kochen. Und so hat er es dann auch gemacht.“

Wie ist das Rezept für das berühmte Jaroslav-Hašek-Gulasch? Sein Urenkel macht daraus kein großes Geheimnis und diktiert es gleich in das Notizbuch. „Halb Rind, halb Schwein, das ist das Wichtigste. Die Zwiebeln schön braun anbraten lassen und ziemlich viel Knoblauch. Mit Bier ablöschen. Paprika dazugeben und auch ein wenig Majoran. Und dann lange und langsam kochen lassen.“

Auch Martin Hašek kennt das Buch von Irena Dousková. Der Roman steht in seinem Kabinett mit verschiedenen Schnapsflaschen. Mit der Lektüre hat er schon angefangen. Es hat ihm ganz gut gefallen, sagt er, doch dann war es ihm doch zu düster und traurig. Und auch zu persönlich.

Doch jetzt, im Januar, wo die Tage kurz sind und der Wind auf dem Hügel von Lipnice unbarmherzig eisig und kalt, hat er endlich „Bärentanz“ zu Ende zu lesen. In seinem Wirtshaus, wo Hašek an „Schwejk“ geschrieben hat. Vielleicht sogar an dem Tisch, an dem der Schriftsteller saß und auf die Gäste wartete. Und auf ihre Geschichten.

Jaroslav Rudiš, Jahrgang 1972, schreibt auf Tschechisch und Deutsch. Zuletzt erschienenen von ihm die Bücher „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“ und „Durch den Nebel“.

Source: faz.net