Künstler Sarkissian in Maastricht: Gegenwärtigkeit der Gewalt

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Der Waldrapp-Ibis ist ein Vogel mit auffälligem schwarzem Kopfgefieder und gebogenem roten Schnabel. Er kommt in den frühesten ägyptischen Hieroglyphenzeichnungen vor, auch die Bibelgeschichte von der Arche Noah erzählt von ihm. Im Bonnefanten Museum in Maastricht ist dem Vogel zurzeit ein ganzer Raum gewidmet, als Teil der Werkschau des in Syrien geborenen Künstlers Hrair Sarkissian. Sieben Vogelschädel-Nachbildungen erinnern an den Waldrapp, seine Wanderflugroute vollzieht ein Video nach, ein letztes Foto erinnert an ihn. Denn der Vogel ist ein Opfer der Gewalt der Menschen und Staatsapparate, die Sarkissian immer wieder beschäftigt.

In Syrien galt das Tier als ausgestorben – bis in der antiken Stadt Palmyra eine Kolonie von sieben Wallrapp-Ibissen entdeckt wurde. Nur ein einziges Vogelweibchen soll die Flugrouten seiner Art gekannt haben. Naturschützer setzten eintausend Dollar Belohnung auf das Tier aus, als man in der Region noch Sorge um Vögel haben konnte. Der syrische Bürgerkrieg machte diese Arbeit zunehmend un­möglich, und als die Terroristen des „Islamischen Staates“ Palmyra 2014 zerstörten, verschwanden auch die Waldrapp-Ibisse wieder. Sarkissian findet mit der Installation „Final Flight“ (2019) bewegende Bilder für das, was Menschen und Staaten den Schwächsten antun. „The Other Side of Silence“ heißt die Maastrichter Schau, die etwa zwanzig Jahre seines Schaffens um­spannt.

Eine Rückenfigur wie auf Caspar David Friedrichs Gemälden: Bei Hrair Sarkissian blicken Menschen häufig versonnen in die Vergangenheit oder in die Heimat, so auch in „Sweet and Sour“ von 2022.

Eine Rückenfigur wie auf Caspar David Friedrichs Gemälden: Bei Hrair Sarkissian blicken Menschen häufig versonnen in die Vergangenheit oder in die Heimat, so auch in „Sweet and Sour“ von 2022. : Bild: Hrair Sarkissian

Er filmt den Vater beim Betrachten der alten Heimat

Der 49 Jahre alte Sarkissian wurde in Damaskus geboren, lernte im Studio seines Vaters die Fotografie und studierte später an der Gerrit Rietveld Akademie in Amsterdam. Heute lebt der Künstler in London, arbeitet mit Videos, Fotos, Skulpturen oder auch Geräuschkulissen. Seine Großeltern waren Überlebende des türkischen Genozids an den Armeniern. Manche seiner Arbeiten beschäftigen sich mit dieser Familiengeschichte.

„Sweet and Sour“ von 2022 etwa zeigt drei große Vi­deo­leinwände in einem abgedunkelten Raum. Links sind Szenen aus dem länd­lichen Sasun zu sehen, einer Region die heute zur Türkei gehört und die Anfang des letzten Jahrhunderts Heimat vieler Ar­menier war. Täler, Bäume, eine Hütte sind zu sehen. Eine kleine Rinderherde läuft an einer Steinmauer und blauen Plastikstühlen vorüber. Das Video an der gegenüberliegenden Wand zeigt einen älteren Mann, der an der Kamera vorbeiblickt. Mal meint man, dass seine Lippen zucken, die Augen feuchter werden. Die ganze Zeit ist sein Atem im Raum zu hören.

In einem dritten Film, platziert zwischen den beiden anderen, sitzt ein Mann mit dem Rücken zum Betrachter, blickt über eine bergige Landschaft. Es ist Sarkissian selbst, der andere ist sein Vater. Der Sohn war in die Türkei gereist, um zu filmen – anschließend ließ er eine Kamera laufen, während sein Vater sich die Bilder aus der Heimat seiner Ah­nen ansah.

Durchröntgtes Wohnen: Hrair Sarkissians „Transparencies“, 2012

Durchröntgtes Wohnen: Hrair Sarkissians „Transparencies“, 2012 : Bild: Hrair Sarkissian

Wo Marktplätze Hinrichtungsstätten sind

Damaskus war der Fluchtpunkt der Familie – und hier erlebte Sarkissian im Alter von elf Jahren auch die Brutalität des Regimes. Er ging auf dem Weg zur Schule an einem Platz vorbei, auf dem gerade drei Männer hingerichtet worden waren – den Anblick der Toten konnte er nie vergessen. Auch sein wohl bekanntestes Werk ist im Bonnefanten Museum zu sehen: „Execu­tion Squares“ von 2008 zeigt öffentliche Plätze in syrischen Städten, meist in friedlich wirkendem Morgenlicht. Nur wer die Beschreibung zu den großformatigen Fo­tos liest, erfährt, dass das Regime auf all diesen Plätzen Menschen hinrichtete.

In der begehbaren Installation „Death­scapes“ von 2020 sind es dagegen nur Ge­räusche, die die Geschichte erzählen – in einem dunklen Kubus stehen die Besucher und hören laute Arbeitsgeräusche. Spitzhacken, Schippen, fallendes Geröll, ein paar Vogelstimmen. Es sind Aufnahmen einer Ausgrabung: in Spanien legten Ar­chäologen ein Massengrab aus der Zeit der faschistischen Diktatur Francos frei. Ein 2021 beendetes Werk, „Last Seen“, zeigt leere Zimmer, Sofas, Küchen, still gewordene Orte familiärer Geselligkeit. Menschen, deren Angehörige ermordet wurden, in Kriegen starben oder verschwunden sind, haben dem Künstler gezeigt, wo sie sie zuletzt gesehen haben – in Argen­tinien, Bosnien, dem Libanon.

Betonerlenwald: Hrair Sarkissians „Unfinished“, 2006

Betonerlenwald: Hrair Sarkissians „Unfinished“, 2006 : Bild: Hrair Sarkissian

Bei aller künstlerischen Bandbreite und handwerklichen Virtuosität, die in seinen Werken sichtbar wird – das wesentliche Ziel seiner Arbeit sei, die Menschen „aufzuwecken“, sagt Sarkissian. Das verstehe er nicht als politisch, sondern im Sinne des „Teilens von Schmerz“, das ein Verstehen des Leidens der Anderen möglich mache. Sein Werk richte sich auch gegen das Vergessen. Immer wieder treffe er auf Menschen, die zum Beispiel den armenischen Genozid leugneten. Die Menschen, die in Sarkissians Kunst vorkommen, lassen ihn in ihre Intimsphäre – und sie tun das sehr bereitwillig, erzählt er. Es sei ein Weg, der Welt die Konsequenzen von Massen-Gewaltverbrechen zu zeigen. Für viele Familien der Getöteten sei die Zeit im Grunde stehen geblieben, die Vergangenheit sei nie vergangen. Auch wer vom Bonnefanten Museum nur ein paar Schritte Richtung Innenstadt geht, kommt an ihren Spu­ren vorbei: an vier „Stolpersteinen“ zum Beispiel, Wilhelminasingel 88, wo der zehn- oder elfjährige Josef Kirchheimer mit seiner Familie wohnte, bis Deutsche ihn nach Auschwitz verschleppten.

Hrair Sarkissian. The Other Side of Silence. Bonnefanten Museum, Maastricht; bis zum 14. Mai. Kein Katalog.

Source: faz.net