Kommentar zur Pandemiepolitik: Wenn Pragmatismus gefährlich wird

Wer immer noch denkt, dass die Pandemie hinter uns liegt, der glaubt vermutlich auch, dass wir mit den Erfahrungen aus den vergangenen drei Jahren für jede neue Viruswelle gerüstet sind. Die hektischen Beratungen in Brüssel und den EU-Hauptstädten in dieser Woche legen jedoch das Gegenteil nahe: Die Wissens- und Handlungslücken sind selbst in der vielbeforschten Covid-19-Krise immer noch eklatant.
Die Einigung der EU-Länder auf eine Testpflicht-Empfehlung für Einreisende aus China ist das einzige Signal, mit dem die Politik demonstrieren wollte: Wir haben verstanden. Aber hat sie das wirklich?
Das Risiko, dass die Welt es mit einem noch aggressiveren Coronavirus zu tun bekommen könnte, ist mit der brutalen Durchseuchungspolitik in China jedenfalls nicht kleiner geworden. Viele in Deutschland haben das verdrängt, sich auch von der vergleichsweise guten Bevölkerungsimmunität einlullen lassen. Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der mehr Kontrollen, mehr Virengentests und Abwasseranalysen an Flughäfen anfangs sogar für unnötig hielt.
Lauterbach kleidet die Lektionen, die man mit Blick auf die Prävention und die Pandemievorsorge gelernt hat, zwar gern in starke Worte. Bei der konsequenten Umsetzung hapert es aber.
Eklatante Impflücken
In den USA, wo sich die hochansteckende Omikronvariante XBB.1.5 gerade explosionsartig ausbreitet, kann man sehen, was Pandemiepolitik erreicht, wenn sie zu früh ins zweite oder dritte Glied geschoben wird. Eklatante Impflücken, Aufklärungsdefizite, Verschwörungserzählungen, unsinnige Maskendebatten und Falschinformationen hinterlassen dort eine großteils ungeschützte und unwillige Bevölkerung. Noch viel schlimmer ist die Lage in China. Hier wie dort hat sich ein gefährlicher Pandemiepragmatismus breit gemacht, der eine Sicherheit nur vorgaukelt und doch schneller, als alle dachten, zu einem gefährlichen Kontrollverlust führt.
Peking hat jüngst sogar die Wiedereröffnung der Tiermärkte in Aussicht gestellt. Das bedrohliche Szenario, dass sich in der aktuellen Seuchenlage die kursierenden Omikronvarianten mit neuen Zoonose-Erregern vermischen, rückt so näher. Vorerst ist das nur Theorie. Aber unrealistisch ist es nicht, wie alle wissen.
Viele Fachleute halten die Testpflichten bei China-Reisenden dennoch für unangemessen, weil sie das Infektionsgeschehen auf Basis der zirkulierenden Varianten bewerten und den Aufwand dazu ins Verhältnis setzen. Das ist epidemiologischer Pragmatismus, der aber die andere, für die Zukunft der Pandemievorsorge entscheidende Dimension ignoriert: den gesundheitspolitischen Druck, der nötiger denn je ist.
Vorsorge und eine schnelle Eindämmung gelingen nur durch maximale Transparenz. China zeigt daran aber immer noch kein Interesse. Erst unter Druck hat Peking jetzt einige hundert Virussequenzen in die offenen Gendatenbanken gestellt – nur um zu zeigen, dass die aktuellen Varianten nichts mit China zu tun haben, sondern außerhalb des Landes zirkulieren. Wie glaubhaft ist das, wohin führt das?
Vor wenigen Monaten hat die Weltgesundheitsorganisation den Entwurf einer globalen Pandemievorsorge-Konvention vorgelegt. Die droht zur Makulatur zu werden, noch ehe sie in die UN-Versammlung kommt und die Pandemie überstanden ist. Die Gesundheitspolitik trägt derzeit wenig dazu bei, dass wir alle uns endlich wieder sicherer fühlen können.
Source: faz.net