Das ist Bolsonaros Ende – vielleicht
Immer wieder kreisen Hubschrauber über dem Parlament in der brasilianischen Hauptstadt, Tränengasgranaten der Polizei explodieren fast im Minutentakt. Drinnen wütet der Mob und zerstört das Mobiliar des Obersten Gerichts. Glasscheiben zerbersten, Sitze werden aus ihrer Verankerung gerissen. Auch die Türe zum ehemaligen Büro von Ex-Vizepräsident Hamilton Mourao wird attackiert.
Der Ex-General hatte seinen Vorgesetzten, den abgewählten rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro, unmittelbar vor dem Ende der gemeinsamen Amtszeit scharf kritisiert. Weil dieser zu den fortwährenden vergeblichen Aufforderungen der Bolsonaro-Anhänger an die Militärs schwieg, eine Präsidentschaft des linken Wahlsiegers Luiz Inacio Lula da Silva (77) mit allen Mitteln zu verhindern.
Ein paar mutige, aber überforderte Polizisten stellen sich dem Angriff entgegen. Andere machen gemeinsame Sache mit den Bolsonaristas. Die katastrophalen Sicherheitsvorkehrungen werden noch Gegenstand einer intensiven Debatte werden. Auch dies erinnert wie fast alles an diesem Sonntagnachmittag in Brasilia an die brutalere Erstürmung des Kapitols in Washington am 6. Januar 2021 von rechtsextremen Anhängern des Wahlverlierers Donald Trump. Am Ende eines turbulenten Tages sind es 200 Verhaftete, die Lula „Faschisten“ nennt – andere Regierungsvertreter sprechen von „Terroristen“. Tote gab es offenbar nach ersten Erkenntnisse nicht.
Die Bilder, die an diesem Tag aus Brasilien den Rest der Welt erreichen, stellen gleich zwei Thesen massiv in Frage: Dass der neu gewählte linke Präsident Luiz Inacio Lula da Silva die dazu notwendige Akzeptanz über die eigene Klientel hinaus besitzt, um die tief gespaltene Gesellschaft zu versöhnen. Und dass es irgendwann eine demokratisch legitimierte Rückkehr für Bolsonaro an die Macht geben kann.
Mehr noch: Egal ob Bolsonaro in seinem selbst gewählten „Exil“ in Florida nun etwas von der Erstürmung des Parlaments, Präsidentenpalastes und Obersten Gerichtshofes wusste, sie gar gesteuert hat oder nicht – seine politische Karriere ist seit diesem Nachmittag in Brasilia de facto beendet. Auch wenn er nach wie vor eine zerstörerische Kraft entfalten kann.
Denn der abgewählte Präsident schwieg wieder einmal, als Tausende seiner Anhänger mit brasilianischen Fahnen, Steinen und Stangen die Sitze der drei Gewalten in der brasilianischen Hauptstadt stürmten. Und mit diesem viel zu langen Schweigen hat er auch die immer noch vorhandenen Brücken in jene moderaten Schichten der Wählerschaft zum Einsturz gebracht, die seinem Nachfolger Lula sehr misstrauisch gegenüberstehen.
Die brasilianische Mitte hat die Bilder aus Brasilia geschockt und erschrocken zur Kenntnis genommen. Dieser Sonntag ist deshalb eine Zäsur. Ab sofort wird es eine schleichende Absetzbewegung der moderaten Wählerschaft vom Bolsonaro-Clan geben, übrig wird das Lager der rechtsextremen Hardliner bleiben.
Eduardo Leite, Gouverneur von Rio Grande do Sul und eines der größten politischen Talente aus dem Mitte-Rechts-Lager, kommentierte via Twitter: „Die kriminellen Szenen von Barbarei und Terrorismus im Kongress, STF und Planalto, die wir in Brasilia sehen, sind in unserer Demokratie absolut inakzeptabel.“
Mit dieser Aktion hat das Bolsonaro-Lager ganz nebenbei den dringend notwendigen Neuaufbau eines seriösen konservativen Lagers eingeleitet, das ähnlich wie das in den USA vor den „Presslufthammern“ Trump und Bolsonaro in einen Trümmerhaufen verwandelt wurde.
Nach diesen Bildern ist es zudem schwer vorstellbar, dass Bolsonaro in absehbarer Zeit nach Brasilien zurückkehren kann. Wahrscheinlicher ist Stand heute eher irgendwann ein Abschiebeflug aus den USA, wenn ihm eine Beteiligung an den Ereignissen von Brasilia nachgewiesen werden kann. Oder Asyl in Israel. Bis unmittelbar vor Beginn der „terroristischen Akte“ wie sie Regierungsvertreter nannten, twitterte Bolsonaro fleißig Erfolgsmeldungen seiner Präsidentschaft. Kaum hatte der Sturm in Brasilia begonnen, wechselte der Ex-Präsident in einen eiskalten Schweigemodus und wartete ab.
Als Brasilia weitgehend geräumt war, meldete sich Bolsonaro schließlich doch noch zu Wort und warf Lula vor, ihn ohne Beweise zu beschuldigen. Und er erinnerte an ähnliche Vorgänge in den Jahren 2013 und 2017, bei denen linke Demonstranten versucht hätten, in den Kongress zu gelangen: „Friedliche Demonstrationen, die sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens abspielen, sind Teil der Demokratie“, twitterte Bolsonaro.
Plünderungen und Invasionen öffentlicher Gebäude, wie sie „heute in Brasilia sowie von der Linken in den Jahren 2013 und 2017 praktiziert“ worden seien, gehörten allerdings nicht dazu, schrieb Bolsonaro weiter. Juristisch ist er damit nicht zu belangen. In den sozialen Netzwerken (35 Millionen Follower bei Twitter und Instagram) ist Bolsonaro immer noch ein Schwergewicht, das Lula vor sich hertreiben kann.
Auch das ist eine Erkenntnis des Sonntags. Lula hatte Bolsonaro zuvor direkt für die Vorfälle verantwortlich gemacht, weil sein Vorgänger in vorangegangenen Reden diese Stimmung erzeugt habe. „Das ist die Verantwortung von ihm und den Parteien, die ihn unterstützt haben.“
Der Hauptgrund für die Ablehnung Lulas in einem erheblichen Teil der brasilianischen Bevölkerung ist die bis heute weder juristisch noch politisch aufgearbeitete Mitverantwortung Lulas sowie seiner Regierungspartei PT an den bisweilen gigantischen Korruptionsskandalen in den vergangenen beiden Jahrzehnten. Bis heute gibt es dafür keine Entschuldigung, keine unabhängige oder parteiinterne Untersuchungskommission, die sich mit dieser unangenehmen Vergangenheit beschäftigt.
Immer wieder kritisieren Bolsonaro-Anhänger, dass Lulas und Bolsonaros politische Fehltritte von den Medien ungleich bewertet werden. Während Bolsonaros Sympathie mit der brasilianischen Militärdiktatur scharf kritisiert wird, bleibt Lulas aktive Unterstützung für linksextreme Diktaturen nahezu folgenlos.
Lula muss nun den schmalen Grat finden, einerseits die demokratischen Institutionen zu schützen, andererseits nicht Gefahr zu laufen, selbst die Grundrechte zu gefährden. Sein eigener Verteidigungsminister hatte die Pro-Bolsonaro-Aktionen vor den Vorfällen Sonntag noch als Teil der Demokratie bezeichnet. In der vergangenen Woche gab es bereits eine Initiative Lula-naher Juristen, die anstreben, Bolsonaro jegliche weitere politische Aktivität zu untersagen und ihm den Prozess zu machen. Ebenfalls ist ein Gesetz in der Diskussion, dass Fake News unterbinden soll. Einige Verfassungsjuristen sehen darin ein mögliches Instrument zur Zensur.
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Source: welt.de