Evolutionär des Freien Spiels: Keith Jarretts „Bordeaux Concert“

Entwirft Klanggebäude, um sie dann wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen zu lassen: Keith Jarrett Bild: Judith Joy Ross
Leider kann Keith Jarrett keine Konzerte mehr geben. Umso euphorischer hört man der nun veröffentlichten Aufnahme des „Bordeaux Concert“ von 2016 zu, auf der er sich abermals als Evolutionär des freien Spiels erweist.
Was hat er eigentlich auf der Bühne gemacht? Nun ja, er spielte Klavier. Wem das als Antwort schon genügt, der muss jetzt nicht unbedingt weiterlesen. Aber Keith Jarrett sprach gelegentlich davon, dass er nicht allein spiele, vielmehr der Vermittler von etwas Größerem sei. Da sind wir bei der Metaphysik. Wer sich dafür nicht interessiert, kann ebenfalls weiterblättern. Dass er „spielte“, kam Jarrett nicht so häufig ohne Attribut über die schmalen Lippen. So etwas wie „Free Playing“ schon eher. Gemeint war damit ein komplexer Prozess, bei dem das Spielen aus dem Nichts, das Sich-ereignen-lassen, das Unbewusste und der innere Antrieb, mit anderen Worten: das Hirn und die Nerven eine nicht unwichtige Rolle spielen, also die Neurowissenschaften berührt werden. Wem danach nicht der Sinn steht, der darf sich nun gleichfalls ausklinken.
Bleibt das Klavier. Keith Jarrett hat es – trotz seiner achtundachtzig Tasten, zweihundertdreißig Stahlsaiten und seiner schier unbegrenzten harmonisch-polyphonen Möglichkeiten – oft als limitiert empfunden und bei seinen subtil geistigen wie rabiat körperlichen Attacken die technischen Möglichkeiten des Instruments ins Unermessliche ausdehnen wollen. Das berührt die nebulöse Gattung Zukunftsmusik.
Source: faz.net