Handball-WM: Der gelassene Wolff

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Der gelassene Wolff – Seite 1

An seinem Jubel nach einer Parade hat sich nichts verändert. Wenn Andreas Wolff einen besonders harten, wichtigen oder trickreichen Wurf hält, bricht es noch immer aus ihm heraus. So wie im letzten Testspiel der Handball-Nationalmannschaft vor dem Start der Weltmeisterschaft.   

Mit Bjarki Elisson lief einer dieser flummiartigen, sprunggewaltigen Isländer auf ihn zu, die gern einfach am Torhüter vorbeifliegen und den Ball dann nur noch ins Netz legen müssen. Aber Wolff wusste offenbar, was kommt: Er folgte dem abhebenden Schützen, machte sich groß und verkürzte den Winkel, bevor im letzten Augenblick sein linkes Bein hochzuckte wie ein Hampelmann, an dessen Schnur gerade jemand gezogen hat. Es war eine herausragende Reaktion, die Wolff entsprechend feierte: Er nahm die Haltung eines Boxers in Doppeldeckung ein, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, und brüllte seine Fäuste an – eine für ihn typische Geste. 10.000 Zuschauer in der Arena in Hannover johlten.

Es ist eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der Vorbereitung auf die Handball-WM in Polen und Schweden, die für die Deutschen am Freitag mit dem Spiel gegen Asienmeister Katar (18 Uhr, ZDF) beginnt: Andreas Wolff ist ganz offensichtlich gut drauf. Und das könnte für die deutsche Mannschaft bei diesem Turnier entscheidend sein.

Wolff ist in den Tagen vor dem WM-Start aus mehreren Gründen Gegenstand diverser Geschichten und Nachfragen. Zum einen, weil er einer Spezies angehört, die ganz unabhängig von der Sportart fasziniert: Torhüter sind oft Eigenbrötler, Egozentriker, Einzelgänger. Aber sie können eben auch Erfolgsgaranten sein, demoralisierend für den Gegner, psychologisch immens wichtig. Es gibt im Mannschaftssport nur wenige Positionen, auf denen ein einzelner Athlet so großen Einfluss auf den Ausgang eines Spiels nehmen kann wie der Keeper im Handball. Wenn sich zwei Teams auf Augenhöhe begegnen, gilt die alte Binse: Wer das Torhüter-Duell für sich entscheidet, gewinnt am Ende sehr wahrscheinlich auch das Spiel. 

Zum anderen verbindet Wolff, der seit 2019 im polnischen Kielce Bälle pariert, grundsätzlich Positives mit dem Nachbarland: Beim letzten großen Titelgewinn der deutschen Handballer 2016 in Polen war er der herausragende Spieler. Unvergessen ist seine Leistung im EM-Endspiel gegen Spanien in Krakau: Wolff vernagelte den Kasten, ließ in der ersten Halbzeit nur sechs Gegentore zu (Endstand: 24:17) und wurde später einstimmig zum besten Keeper des Turniers gewählt. Nach dem Finale wies die Statistik 50 Prozent gehaltener Bälle aus – ein absurd hoher Wert.  

Plötzlich war Wolff erster Repräsentant seiner Sportart

Dabei hatten manche Experten nach Wolffs Nominierung noch die Zurechnungsfähigkeit des damaligen Bundestrainers Dagur Sigurdsson infrage gestellt. Der Isländer hatte es trotz massiver Kritik gewagt, den arrivierten und turniererprobten Silvio Heinevetter aus dem Kader für die EM zu streichen. Stattdessen setzte er auf einen jungen Mann, der höchstens Insidern ein Begriff war und sein Geld im beschaulichen Wetzlar verdiente: Andreas Wolff. 

Der damals 24-Jährige belohnte den Wagemut des Trainers mit spektakulären Leistungen, steigerte sich im Turnierverlauf stetig und stieg spätestens mit seinen Paraden im Finale, das 13 Millionen Menschen am Fernseher verfolgten, zum deutschen Sportstar auf. Er gab Interviews in etlichen großen Magazinen und Zeitungen, wurde ins ZDF-Sportstudio eingeladen und war plötzlich erster Repräsentant seiner Sportart. Schnell wurden historische Vergleiche zu den Ausnahmekönnern der deutschen Torhüterzunft bemüht, zu Wieland Schmidt, Andreas Thiel oder Henning Fritz etwa.   

Wer steckt solch plötzlichen Hype schon ohne Nebenwirkungen weg?

Aus heutiger Sicht waren die Elogen vielleicht ein bisschen zu viel für Andreas Wolff. Welcher Mittzwanziger steckt so einen Hype schon ohne Nebenwirkungen weg? Bei den folgenden Turnieren war Wolff zwar meistens in guter Verfassung, aber eben nie mehr so überragend wie im Januar 2016. Das lag nicht zuletzt daran, dass Wolff – seit Jugendtagen von Ehrgeiz zerfressen, wie sein einstiger Trainer Kai Wandschneider einmal erzählt hat – sich selbst immens unter Druck setzte. Heute sagt er: “Ich hatte das Gefühl, die Last der ganzen Welt auf den Schultern zu tragen – eine Last, die ich mir selbst auferlegt hatte.” 

Von anderen Handball-Torhütern sind ähnliche Geschichten überliefert. Henning Fritz beispielsweise, Keeper der deutschen Weltmeister-Mannschaft von 2007, hat nach der Karriere berichtet, wie er zu aktiven Zeiten beinahe daran zugrunde gegangen wäre, immer der Beste sein zu wollen, jeden Wurf parieren zu wollen, nie zufrieden sein zu können. Vor der WM im eigenen Land suchte sich Fritz dann professionelle Hilfe und begann eine Therapie. “Für mich persönlich hatte das großen Anteil daran, dass wir im eigenen Land Weltmeister geworden sind”, hat er später erzählt.

Wolff ist nun merklich ruhiger und gelassener

Wolff hat kürzlich einen vergleichbaren Weg eingeschlagen. Nach zwei Corona-Erkrankungen, die mit einer schweren sportlichen Krise einhergingen, nahm er den Rat einer Sportpsychologin in Anspruch. Dabei ist er zu der Erkenntnis gelangt, “dass Ehrgeiz nicht mein einziges Leitmotiv sein kann”, sagt Wolff. Und dass der Spaß am Handball, der Spaß am Spiel bei allem Ehrgeiz und aller Verbissenheit nicht zu kurz kommen dürfe. “Das ist in den vergangenen Jahren untergegangen. Ich hatte große Probleme, mit negativen Erlebnissen umzugehen.” Jetzt habe er verstanden, “dass ich nicht von mir erwarten kann, jeden Ball zu halten.”     

Diese Sätze passen zu dem Eindruck, den Wolff seit einigen Monaten vermittelt. Abgesehen von seinem zurechtgestutzten Bart hat er sich optisch zwar kaum verändert, mit einer Größe von 1,98 und einem Gewicht von 110 Kilogramm ist er noch immer eine beeindruckende physische Erscheinung. Innerlich – und auch im Umgang mit Journalisten, mit denen er bei der EM vor einem Jahr am liebsten kein Wort gewechselt hätte – ist er allerdings merklich ruhiger und gelassener geworden. Es gab Turniere, da war Wolff für Reporter unnahbar bis abwesend. Beim offiziellen Medientermin des DHB vor der WM dagegen war er gesprächig und erteilte detailliert Auskunft. Bei den Kollegen im Nationalteam, so hört man, kommt die neue Wolff-Art offenbar außerordentlich gut an.   

Geblieben ist Wolff die Jubelchoreografie. Und Deutschlands Handballfans hätten sicher nichts dagegen einzuwenden, den Torhüter in den nächsten Tagen und Wochen häufiger in der für ihn typischen Boxer-Haltung zu sehen. Vom Bundestrainer und den Mannschaftskameraden ganz zu schweigen.