Der Frankfurter Jazzkeller wird siebzig Jahre alt
1960: Hartwig Bartz, den kantigen Schädel kurz geschoren, den Henriquatre-Bart in scharfe Form gebracht, geht von der Bühne. Die jungen Fans, die an der Mittelsäule des Gewölbekellers lehnen und sich den Hals verrenken, weil sie den Jazz erst richtig hören, wenn sie ihn auch sehen können, machen ehrfürchtig Platz für den Schlagzeuger und die Mitglieder des Quintetts auf ihrem kurzen Weg zur langen Bar. Im schmalen Gang mit Nischen hinten rechts, wohin der Blick kaum einmal reicht, taucht die Band mitsamt Gefolge unter. Im Keller ist jetzt jedem klar: Was dort geschieht, geht dich nichts an.
Eine Ewigkeit verstreicht. Dann kommen sie zum neuen Set, der Drummer Bartz mit Peter Trunk, dem Genie am Kontrabass, vereint im austernhaften Schweigen. Bent Jædig, der Däne im Frankfurter Jazzexil, mit Saxophon und Flöte, folgt Günter Kronberg, der schwer an seinem Bariton zu tragen hat. Zuletzt, ein wenig schüchtern fast, erscheint der Mann mit der goldenen Posaune: vertraut mit den Geheimnissen des Hardbop allesamt. Sie spielen jetzt mit solchem Drive, dass Albert Mangelsdorff – auf der Posaune wirklich sprachbegabt, sonst wahrlich kein Wortschöpfer vor dem Herrn – einen schrägen Superlativ für die Explosion des Jazz erfindet: wahnsinnigst. Genau so fühlen es die vielen Hörer. In diesen Tagen, Anfang der Sechziger, entsteht hier, was sich zuvor fast ein Jahrzehnt schon angekündigt hat und lange Zeit danach den Jazz im Land bestimmen wird: der Frankfurt Sound, ein Stil, ein Ausdruck, ein Begriff. Sein Ruf dringt weit bis in die Vereinigten Staaten vor.
To Be or Not to Bop
1988: Im Keller spielt Dizzy Gillespie, der Trompeter aus South Carolina. An sich sind Stars wie er für kleine Clubs nicht zu bezahlen. Eugen Hahn, der gute Geist des Kellers, engagiert ihn trotzdem. Für drei Sets in Folge: Eintritt vierzig Mark pro Show. Wenn es hoch kommt, passen hundert Besucher in den Keller. Jetzt sind es dreimal hundertfünfzig, die Schlangen nicht gerechnet, die sich die neunzehn Stufen hinauf zur Kleinen Bockenheimer Straße winden. Ein Wunder ist der Zuspruch nicht: Dizzy Gillespie ist eine Jazzlegende. Mit Charlie Parker und Thelonious Monk gehört er zum Stoßtrupp, der vor Urzeiten in Minton’s Playhouse von New York die Bebop-Revolution anzettelte.
Überraschend ist auch nicht, dass er das Angebot zum Auftritt hier angenommen hat. Denn mittlerweile gilt der Keller als deutsches Minton’s Playhouse, der Platz, an dem die Turniere stattfinden und die Lanzen gebrochen werden. So etwas spricht sich schnell herum, auch bis nach Harlem, zur Southside und bis East St. Louis. Vor Jahren hat Dizzy Gillespie die Existenzfrage des Jazz gestellt: To Be or Not to Bop. Das wurde überall verstanden: Der Jazz als Lebensform, die Künstler als Vorhut des sozialen Wandels. Aber Dizzy hatte damit nicht im Sinn, die pralle Kunst und pralles Leben kurzerhand in eins zu setzen: „Ich gehe nicht auf die Bühne und sage, lasst uns einmal acht Takte sozialen Protest spielen.“ Jetzt bläst er in sein abenteuerliches Horn und reiht Prachtklänge aus verminderten Stakkato-Ketten aneinander. Der Jazzrebell als kluger Entertainer.
1952: In Deutschland freilich nimmt man in der Nachkriegszeit acht Takte Jazz durchaus direkt als Zeichen des gesellschaftlichen Umbruchs wahr. Keiner weiß das besser als Carlo Bohländer, der Jazztrompeter als Visionär. Es ist das Jahr, in dem er aus Trümmern der zerbombten Innenstadt ebenjenen Jazzkeller freilegt, den ersten seiner Art in Deutschland. Neun Tage nach Beendigung des Krieges gelingt es ihm sogar, von den Militärbehörden eine Genehmigung für das erste öffentliche Jazzkonzert hierzulande zu erwirken. Die eingereichte Repertoireliste macht es möglich. Zwischen „All of Me“ und „Jeepers Creepers“ findet auch ein amerikanischer Stadtkommandant keine Spur von deutschnationalem Liedgut, geschweige denn von einschlägiger Marschmusik.
Standortvorteil im Zentrum Europas
Szenen brauchen Plätze, an denen man sie lokalisieren kann. Der Keller wird nun zum Mittelpunkt des Jazz in Frankfurt. Hier gibt es Raum, um sich zu treffen, zu spielen, auszutauschen, Neues zu probieren, ästhetischen Disput zu führen. Der Standortvorteil im Zentrum Europas hilft dabei enorm: als Anlaufstelle für durchreisende Künstler, bei Konzerten in der Kongresshalle und gleich danach bei den sagenhaften Jamsessions der Stars mit Musikern der Region bis in die frühen Morgenstunden. Hier findet eine ganze Generation von Musikern ihre künstlerische Heimat, auch Albert Mangelsdorff auf seinem Weg zum Jazzmusiker von Weltruf. Auf ihn lässt sich übertragen, was man vom Impulse-Label für die Karriere John Coltranes formulierte: „The House That Trane Built.“ Der Keller wird zum Ort, der Albert Mangelsdorff hervorbringt. Hier kann er auf die Bühne gehen, wann er will, Tag für Tag wie manisch an seiner Technik feilen, an gebrochenen Quarten-Akkorden und Multiphonics, atonalen Skalen und denaturierten Posaunenklängen, an seiner ganzen hermetischen Unkopierbarkeit.
2005: Bis zu seinem Todesjahr bleibt Albert eine Konstante in der bewegten Geschichte des Jazzkellers, an der die wechselnden Pächter mitschreiben. Carlo Bohländer, der das Haus in seiner Gründerzeit zum Wallfahrtsort der internationalen Jazzgesellschaft entwickelt, und Willi Geipel, der als Schankwirt Jazz vom Fass serviert und doch den Keller unbeschadet durch die Monsterwelle der Beatlemania navigiert. Auch die Brüder Mangelsdorff nehmen als Teilzeitmanager Anteil am Erhalt des Kellers, nachdem Ende der Siebzigerjahre bei all den wuchernden Gemischtwarenläden der Popkultur niemand einen reinen Jazzclub führen will. 1986 kommt schließlich Eugen Hahn, der es in vierunddreißig Jahren schafft, den Club als Stammgast im Downbeat-Verzeichnis der „World’s Greatest Jazz Venues“ zu etablieren.
2023: Gute Nachrichten. Nach sagenhaften siebzig Jahren existiert der Jazzkeller als Beispiel Frankfurter Jazzexzellenz noch immer. Das Old-School-Konzept von Eugen Hahn ist mit Corona zwar sanft entsorgt worden. Aber Sohn Philipp führt den Keller als schicke Jazzbar mit kreativen Cocktails und Livemusik weiter und scheint damit auch ein neues, jüngeres Publikum zu gewinnen. Die Internationale der unerschütterlichen Jazzfans wird es freuen. Die Nostalgiker müssen aber auch nicht darben. Sie können dem Genius Loci schon vertrauen. Er wird sie zuverlässig mit all den Storys aus der Kellerchronik versorgen: Wie der arrogante Gerry Mulligan dem großen Heinz Sauer nach dessen Saxophonsolo ehrlichen Applaus spendete, Johnny Hodges sein Bier selbst zapfte und zum Zischen brachte, Chet Baker unendlich melancholisch vor sich hin nuschelte und Satchmo mit den Mädels schäkerte und dabei das Trompetenspielen glatt vergaß. Das alles hat der Jazzkeller in seinem Mauerwerk gespeichert. Mit ein wenig Phantasie lässt es sich zum Klingen bringen. Für Jazzaficionados ist das kein Problem. Die haben es drauf.
Source: faz.net