Baden-Württemberg: Kretzschmanns Grüne stehen unter Druck

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Als die Grünen vor zwölf Jahren in Baden-Württemberg die Macht übernahmen, war eines ihrer Hauptanliegen, der Wirtschaft die Angst vor dem ökologischen Wandel zu nehmen. Die politisch vernachlässigte ökologische Innovationsfreude vieler Unternehmen machten es Ministerpräsident Winfried Kretschmann zunächst leicht, Glaubwürdigkeit zu gewinnen, zumal er die Führer von Großunternehmen wie Bosch oder Daimler geschickt politisch ein­band.

Rüdiger Soldt

Politischer Korrespondent in Baden-Württemberg.

Nach mehr als einem Jahrzehnt an der Regierung und angesichts weltpolitisch schwieriger Zeiten zählt für die Grünen diese Akzeptanz kaum noch. Es geht jetzt um eine härtere politische Währung: messbare politische Erfolge. Fünf neue Windkraftanlagen sind 2022 in Baden-Württemberg gebaut worden, geplant wird meistens sechs Jahre für eine solche Anlage. In Bildungsvergleichsstudien liegt das Land nur noch im Mittelfeld.

Die Unzufriedenheit mit den Grünen nimmt zu

Sichtbare Erfolge beim Bürokratieabbau blieben bislang aus, in den Ministerien arbeiten deutlich mehr Beamte als früher, die Unzufriedenheit der Bürger wächst. Das zeigte sich kürzlich in einem „offenen Brief“, verfasst von den drei kommunalen Spitzenverbänden, allen wichtigen Wirtschaftsverbänden sowie Sparkassen- und Genossenschaftsverbänden. Die Verbände forderten von Kretschmann die Einrichtung eines „Zu­kunftskonvents“, um „lähmende Behäbigkeit und einen empfundenen Stillstand“ zu beenden, Regulierungsstandards abzubauen, und die Verwaltung zu entbürokratisieren. Die CDU bejubelte die Forderung wenige Minuten nach ihrer Veröffentlichung. Nicht zu Unrecht entstand im grünen Staatsministerium der Eindruck, hier könne sich eine neue Allianz aus Wirtschaft und CDU formieren.

Kretschmann lehnte die Einberufung eines Zukunftskonvents ab – es blieb ihm auch nichts anderes übrig, sie wäre dem Eingeständnis seines Scheiterns gleichgekommen. Immerhin nennt der Ministerpräsident die Überbürokratisierung nun in fast jedem Interview eine große Baustelle von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Klagen darüber, oftmals auch verbunden mit Kritik an mangelnder Durchsetzungskraft des Ministerpräsidenten, werden längst nicht mehr einzig von Funktionären der Wirtschaftsverbände vorgetragen, sondern kommen auch aus seiner Partei: Landtagsabgeordnete schimpfen hinter vorgehaltener Hand über die Bürokratie, ehemalige Abgeordnete wie der oberschwäbische Banker Eugen Schlachter schreiben Papiere. Den offenen Brief der Wirtschaftsverbände mailte Schlachter mit diesem Kommentar an die grünen Parteifreunde weiter: „Mein Vorschlag an den Ministerpräsidenten, die grüne Fraktion, die grüne Partei: Aufwachen.“ Ohne „klare zielorientierte Führung“ bleibe es beim „Geschwafel innerhalb der grünen Community“, warnt Schlachter.

Statt eines Zukunftskonvents wollen die Grünen einen neuen Normenkontrollrat

Die klaren, feindseligen Ansagen der Wirtschaft sorgen in der Villa Reitzen­stein für Unruhe: Kretschmanns Staatskanzleichef Florian Stegmann löste den Normenkontrollrat, der die Themen des „Zukunftskonvents“ eigentlich bearbeiten sollte, kurz vor Weihnachten handstreichartig auf. Der 2018 auf Anregung des damaligen grünen Staatskanzleichefs Klaus-Peter Murawski eingesetzte Normenkontrollrat soll nun im ersten Quartal dieses Jahres neu konstituiert werden. Die Vorschläge des bisherigen Gremiums seien „zwei Stufen zu weit unten“ angesiedelt gewesen, teilte Kretschmann zur Begründung mit. Empörte Wortmeldungen der ehrenamtlichen Mitglieder des Gremiums ließen nicht lange auf sich warten, die Vorsitzende Gisela Meister-Scheufelen (CDU) verwies auf 160 Verbesserungsvorschläge und nannte ihre Absetzung „stil- und respektlos“. Sogar der Vorsitzende des Normenkontrollrats des Bundes übte Kritik.

Die Aufgabe des Normenkontrollrats war es, für jedes fast fertige Gesetz den sogenannten „Erfüllungsaufwand“ zu be­rechnen, also die Kosten sowie den Bürokratieaufwand für Bürger, Wirtschaft und Verwaltung zu ermitteln. Der neue Normenkontrollrat, in dem weniger Mitglieder mit CDU-Parteibuch sitzen werden, bekommt eine andere Ausrichtung: Er soll jede neue Norm frühzeitig einem „Praxis- und Digitalisierungscheck“ unterziehen und vorsorglich prüfen, welche „nicht gewollten Bürokratielasten“ für die „Normempfänger“, also die Bürger, entstehen.

Praxischeck vor dem Gesetzgebungsverfahren

Statt der nachträglichen, quantitativen Bemessung von Bürokratiekosten soll das Abfassen neuer Gesetze schon vor dem Verfassen von ersten Eckpunkten kritisch begleitet werden. Die grün-schwarze Regierung orientiert sich dabei am Vorgehen des Normenkontrollrats der Bundesregierung. Dem eigentlichen Gesetzgebungsprozess wird ein „Gesetzgebungslabor“ mit Praxischeck vorgeschaltet. Bislang, so Kretschmann, sei der „Bürokratie-Hydra“ der Kopf abgeschlagen worden, dann seien gleich zwei neue Ungeheuer nachgewachsen. Nach dem zusätzlichen „Masterplan Transformation“ soll der Bürokratieabbau nun drei Monate in Pilotprojekten erprobt und dann auf die gesamte Landesverwaltung übertragen werden.

Auch der alte Normenkontrollrat arbeite präventiv. Kritiker sagen, dass Normenkontrolle ohne die Ermittlung des „Erfüllungsaufwands“ eines fertigen Gesetzes nicht funktioniere: „Wenn Sie die Kosten eines Böllerverbots nicht berechnen und benennen, haben Sie kaum Möglichkeiten, der Verwaltung und der Politik ein solches Gesetz auszureden“, sagt ein ehemaliges Mitglied des Normenkontrollrats. Es gehe der Regierung nur darum, vom geringen Erfolg der Exekutive bei Bürokratieabbau und Digitalisierung abzulenken.

Erfahrene Ministerialbeamte sagen, entscheidend für den Bürokratieabbau sei das Durchsetzungsvermögen des Ministerpräsidenten und seines Staatskanzleichefs. Bei der Vorstellung des Masterplans sagte Kretschmann: „Wenn ich meine Vermerke lese, frage ich mich manchmal, was kann ich eigentlich noch entscheiden.“ Der Masterplan sei nur ein Anfang. „Man kann die Welt nur schrittweise verändern.“

Source: faz.net