Die Summen für den Ukraine-Wiederaufbau sprengen sämtliche Dimensionen

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Rund 2,5 Milliarden Dollar zusätzliche Militärhilfe sagten die USA am Donnerstag der Ukraine zu, drei Milliarden Euro gab die EU zwei Tage zuvor frei – Geld, das dazu dienen soll, Staat und Wirtschaft in dem kriegsgebeutelten Land zu stabilisieren. Riesensummen, die doch winzig sind im Vergleich zu den Aufwendungen, die längerfristig auf die westlichen Unterstützernationen zukommen, wollen sie dem Land beim Wiederaufbau helfen. Auf viele Hundert Milliarden dürften sich die Kosten summieren. Beim Weltwirtschaftsforum (WEF) in dieser Woche in Davos war sogar von Summen jenseits der Billionengrenze die Rede.

Natürlich bleiben alle Kalkulationen im Ungefähren, solange ein Kriegsende nicht absehbar ist und die Zerstörung ukrainischer Infrastruktur durch russische Angriffe anhält. Zunehmend rücken aber auch Überlegungen in den Fokus, wie man sicherstellen kann, dass die Ukraine in der Nachkriegszeit politisch und wirtschaftlich eigenständig bleiben kann.

Dabei geht es nicht zuletzt um Geld. „Ich habe hier von Kosten um die 700 Milliarden Euro oder Dollar gehört“, sagte Yulia Svyrydenko, die stellvertretende Premierministerin der Ukraine, bei der Konferenz in den Schweizer Hochalpen. „Es wird teurer. Wir brauchen schon jetzt die ersten Gelder.“

Bisher liegt nur ein Bruchteil davon auf dem Tisch. Bis zum 20. November waren der Ukraine von der internationalen Gemeinschaft gut 112 Milliarden Euro zugesagt worden, haben die jüngsten Berechnungen des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel ergeben. Darin enthalten sind alle militärischen, finanziellen und humanitären Hilfszusagen – denen bisher nur zum Teil schon Taten gefolgt sind. Von 18 Milliarden Euro an budgetären Hilfen zum Beispiel, auf die sich die EU-Staaten im Spätherbst verständigt hatten, sind nach den ersten Zahlungen diese Woche immer noch 15 Milliarden Euro offen.

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„Wenn der Krieg relativ schnell endet, rechnen wir mit einem Aufwand von 750 Milliarden Dollar für Hilfe und Wiederaufbau“, sagte Larry Fink, Chef der US-Investmentgesellschaft Blackrock, in Davos. Das entspräche einer Schätzung, die schon ein paar Monate alt ist: „Wenn es im Herbst wirklich schon 750 Milliarden Dollar gewesen sein sollten, wie die Weltbank geschätzt hat, dann sind durch die Zerstörungen seither sicherlich ein paar Hundert Milliarden hinzugekommen“, sagte Jürgen Rigterink, Vize-Chef der Osteuropabank EBRD, der WELT AM SONNTAG. Ukrainische Parlamentarier forderten in Davos sogar in dieser Höhe bislang ungekannte Beträge: Von 1,25 Billionen Euro war die Rede.

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Völlig aus der Luft gegriffen sind solche Beträge nicht. Zu den Experten, die sich seit bald einem Jahr intensiv mit der Frage des Wiederaufbaus beschäftigt haben, zählt Barry Eichengreen von der University of California in Berkeley. „Natürlich weiß niemand, wie hoch die Rechnung ausfällt, weil ja auch niemand weiß, wann der Krieg enden wird“, sagte Eichengreen WELT AM SONNTAG. Aber der Professor rechnet vor: Wenn man bedenke, dass die Wirtschaftsleistung vor dem Krieg rund 200 Milliarden Dollar pro Jahr betrug, und man ein Verhältnis von Anlagevermögen zu Bruttoinlandsprodukt von vier zu eins unterstelle, „dann würde die Reparatur eines vollständig zerstörten Kapitalstocks etwa 800 Milliarden Dollar kosten“.

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Bei den Summen, die jetzt diskutiert werden, würde selbst der Rückgriff auf russische Vermögen nur eine kleine Entlastung sein. Derzeit sind noch russische Devisenreserven im Umfang von mehr als 300 Milliarden Dollar eingefroren, hinzu kommen private Ersparnisse reicher Russen, die im Ausland lagern, im Umfang von rund 30 Milliarden Dollar. „Russland muss den Wiederaufbau mitfinanzieren“, sagte in Davos die kanadische Finanzministerin Chrystia Freeland. Sie will die in Kanada eingefrorenen russischen Gelder der Ukraine zur Verfügung stellen. Die ersten Assets habe Kanada bereits an die Ukraine übergeben, so Freeland.

Die Ukraine selbst fällt als Finanzier wohl weitgehend aus. Auch wenn die Finanzhilfen zugunsten Kiews bisher fast ausschließlich als Kredite und nicht als Zuschüsse gewährt werden, dürfe man sich keine Illusion hingeben, sagt Osteuropabank-Vize Rigterink: Die öffentlichen Finanziers müssten sich „klar sein, dass ein erheblicher Teil am Ende nicht zurückgezahlt werden kann von der Ukraine“, so Rigterink. Aber man habe dafür auch „nach dem Krieg die Chance, das ganze Land auf ein viel besseres Fundament zu stellen“, glaubt Rigterink. Das wird auch nötig sein, um private Investoren zu überzeugen. Die sehen durchaus das Potenzial.

Investoren wollen Land „mit Geld fluten“

„Die Chancen sind riesig, gerade für Unternehmen, die in der Infrastruktur, vor allem in der Energie tätig sind“, sagte Joe Kaeser, Aufsichtsrat von Siemens Energy und Linde, in Davos. Die Entwicklungspyramide eines Landes sei immer die gleiche: Erst müsse eine funktionsfähige Infrastruktur geschaffen werden. Dazu gehöre Energie, der Transport von Gütern und Menschen. Darauf aufbauend sei eine Industrialisierung möglich und ganz oben komme die medizinische Versorgung, die Kosmetik, die Luxusbranche. „So entwickeln sich Volkswirtschaften“, sagt Kaeser. „Die Ukraine fängt wieder von vorne an, das heißt, die Energie, die Infrastruktur wird das Entscheidende sein.“

Klar ist, dass die Rahmenbedingungen stimmen müssen, damit die Entwicklungspyramide, wie Kaeser sie vorschwebt, entsteht. „Es wird nicht funktionieren, wenn nicht öffentliches und privates Geld zusammenkommt“, sagte David Salomon, der Chef der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs, in Davos. „Es muss gute Anreize geben für Kapital, das nach Rendite sucht.“

Quelle: Infografik WELT

Nun ist es nicht so, dass die Ukraine von Null anfangen würde. „Die Ukraine hat eine starke Zulieferindustrie und großartige Arbeitskräfte“, sagt Thomas Schäfer, der bei Volkswagen für die Marke VW zuständige Konzernvorstand. „Das ist auch der Grund, warum viele Hersteller wie auch Volkswagen dort erhebliche Teile der Lieferkette angesiedelt haben, etwa für Kabelbäume.“

Richtig ist aber auch, dass die Ukraine seit Zerfall der Sowjetunion über viele Jahre als korruptes, sklerotisches Land galt. Im Korruptionsindex von Transparency International rangierte die Ukraine 2021 auf Platz 122 – hinter Ländern wie Algerien, Nepal oder Sambia.

Entsprechend ging die Ukraine weitgehend leer aus, als nach 1990 im Osten Europas das viel beschworene „Hongkong vor der Haustür“ entstand. Relativ zur Einwohnerzahl findet sich das Land beim ausländischen Finanzengagment weit hinter anderen Staaten, die nach dem Mauerfall ähnliche Startbedingungen hatten. Der Bestand an Direktinvestitionen aus dem Ausland belief sich nach UN-Information 2021 auf gerade einmal 1419 Dollar pro Kopf. Polen kommt auf einen fünfmal so hohen Wert und Ungarn gar auf das siebenfache Niveau.

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Positiv gewendet könnte man sagen, dass das Nachholpotenzial riesig ist – und die Ukraine vielleicht sogar bei Modernisierung von Infrastruktur und Wirtschaftsstruktur andere Standorte aus dem Feld schlagen könnte. Und so war auch die Stimmung auf dem Wirtschaftsforum in Davos. „Ich habe Selenskij gesagt: Wir wollen nicht neue Oligarchen kreieren, wir wollen eine neue Ukraine bauen. Ein kapitalistisches System, wo Kapital für Fortschritt eingesetzt wird“, sagte Blackrock-Chef Fink – und fügte gleich an, die Investoren würden bereitstehen, die Ukraine mit Geld „zu fluten“.

Nur wird es auch Menschen geben müssen, die mit dem Kapital arbeiten können. Seit 1990 hat sich die Bevölkerung bereits deutlich reduziert, von 52 auf rund 40 Millionen Menschen. Bis Ende des Jahrhunderts, prognostizieren die Vereinten Nationen, werden es angesichts geringer Geburtenraten nur noch 20 Millionen sein. Und selbst das könnte sich noch als optimistisch erweisen. Schätzungen gehen davon auf, dass inzwischen sieben Millionen Ukrainer ins Ausland geflohen und fünf weitere Millionen aus ihren Heimatorten vertrieben worden sind. Wann wie viele zurückkehren und unter welchen Umständen, vermag niemand zu sagen.

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Der Marshall-Plan wird von vielen Experten als Blaupause für die Ukraine gesehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg zündete er ein Wirtschaftswunder in Westeuropa – vor allem im stark zerstörten Deutschland. Jedoch sprengen die Summen, um die es bei der Ukraine heute geht, sämtliche Dimensionen. Zwischen 1947 und 1951 flossen lediglich 13 Milliarden Dollar an Aufbaugeldern nach Westeuropa. Preisbereinigt entspricht das rund 130 Milliarden Dollar, für die Ukraine müsste also – je nach Schätzung – sechs bis acht Mal so viel Geld aufgebracht werden. Auch die Wiederaufbauhilfen für Irak oder Afghanistan waren wesentlich kleiner dimensioniert. Nach einer Studie der George Washington University flossen in den Irak gut 60 Milliarden Dollar, nach Afghanistan rund 100 Milliarden Euro.

„Die Finanzierung des ukrainischen Wiederaufbaus wird viel komplexer sein als beispielsweise die Finanzierung des europäischen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg“, sagt Eichengreen. Das allein schon deshalb, weil es anders als beim Marshall-Plan mehrere Geber geben müsse. „Die Koordinierung ihrer Bemühungen wird eine Herausforderung sein.“ Die Summen, die im Zusammenhang mit den Ukraine-Hilfen genannt werden, sind noch am ehesten mit dem deutschen Aufbau Ost vergleichbar. Das Ifo-Institut hat die Nettotransfers in den Osten zwischen 1990 bis 2009 mit 1,3 Billionen Euro beziffert. Der SED-Forschungsverbund hat eine etwas höhere Summe von 1,6 Billionen Euro ausgerechnet.

In ähnliche Dimensionen könnten sich die Summen bewegen, sollte der Krieg noch andauern. Denn nichts spricht dafür, dass die Ukraine einen schnellen Sieg auf dem Schlachtfeld erringen wird.

Immerhin hat die Ukraine den Rückhalt der westlichen Welt, wie das Weltwirtschaftsforum eindrucksvoll zeigte. Freeland berichtete von privaten Einzelspenden, über die in Kanada 500 Millionen Dollar zusammengekommen sind – eine Summe, die angesichts der finanziellen Herausforderungen eher symbolischen Charakter hat. Ohne großzügige öffentliche Hilfen der Staatengemeinschaft wird der Wiederaufbau nicht funktionieren. Zum Vergleich: Alle Entwicklungshilfe weltweit summiert sich auf rund 190 Milliarden Dollar pro Jahr.

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Source: welt.de