TV-Kritik: Bei „Anne Will“ wird über die Zeitenwende diskutiert

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Mit einer Schonfrist wird Boris Pistorius nicht ernsthaft gerechnet haben. Anne Will kennt denn auch keine Gnade, als sie den Verteidigungsminister, der sein neues Amt zu diesem Zeitpunkt noch keine hundert Stunden bekleidet, in einem vorab aufgezeichneten Einzelgespräch interviewt. Es geht um die Panzer-Frage und darum, was die Bundesregierung und insbesondere der Kanzler nun eigentlich wollen. Will setzt dem frisch aus Hannover nach Berlin geholten Mann mit kurzen, präzisen Fragen zu: Warum die Regierung angesichts der schon lange laufenden Debatte nicht längst geprüft habe, wie viele Panzer zur Verfügung stehen, was die Industrie zusätzlich liefern könne und was für die Sicherstellung der sogenannten Interoperabilität mit den Bündnispartnern zu tun sei?

Pistorius antwortet, die Faktenlage sei nicht statisch und auch einige Bündnispartner noch nicht so weit, eine Entscheidung in der Kampfpanzerfrage zu fällen, wie sich auch in Ramstein gezeigt habe. Er verweist darauf, dass sich in der hiesigen Bevölkerung Befürworter und Gegner eines solchen Schrittes in etwa die Waage hielten, um sofort nachzuschieben, dass solche Stimmungsbilder natürlich nicht „handlungsentscheidend“ für die Politik sein dürften. Und diese Entscheidung werde, setzt er hinzu, im Kanzleramt getroffen werden, wenn es soweit sei.

Dass Pistorius’ Teint ziemlich rötlich wirkt, während er von Will gegrillt wird, mag an der unvorteilhaften Beleuchtung im Pariser Fernsehstudio liegen, von dem aus der Verteidigungsminister zugeschaltet ist. Das Unbehagen mit seiner Rolle in diesem Gespräch ist ohnedies mit Händen zu greifen. Und gerade das macht Hoffnung, dass der Neue ein guter Verteidigungsminister werden könnte. Denn er vermittelt nicht den Eindruck, dass er sich solchen Situationen regelmäßig aussetzen möchte.

Ein Wörtchen mitreden

Dieser als machtbewusst und geradlinig bekannte Mann, so dürfen die Bundeswehrsoldaten einstweilen hoffen, wird sich nicht ähnlich langmütig wie die überforderte und mit dem Amt fremdelnde Christine Lambrecht dazu hergeben, mit eigener Untätigkeit das Zaudern des Kanzlers in der Sache und sein Unvermögen im Vermitteln von Entscheidungen zu bemänteln. Dafür gibt es kleine Anzeichen: Wo Scholz nur davon spricht, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfe, sagt sein neuer Verteidigungsminister, sie solle ihn gewinnen. Und Pistorius‘ Ankündigung, es werde in der Panzerfrage schon bald eine Entscheidung geben, macht ziemlich deutlich, dass er ein Wörtchen mitzureden gedenkt, wenn künftig in militärischen Fragen im Kanzleramt entschieden wird.

Wobei die Entscheidung in der Panzerfrage längst gefallen sein dürfte. „Jeder weiß, dass es ein ,Ja‘ sein wird, es sagt nur noch niemand“, meint Nicole Deitelhoff, Leiterin der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Niemand widerspricht in der Runde, in der es darum geht, wie weit es nun eigentlich her ist mit der Zeitenwende und mit der neuen Abwehrbereitschaft des Landes. Und niemand hielte das „Ja“, wenn es denn kommt, für falsch. Die Gefahr einer Eskalation des Kriegs sei in diesem Fall zwar nicht auszuschließen, doch unwahrscheinlich, ist der einmütige Tenor. Das Restrisiko ist, so geht das allgemeine Kalkül unausgesprochen weiter, angesichts des ansonsten zu zahlenden Preises einzugehen.

Vor irgendeinem Fernseher im Land dürfte in diesem Moment Egon Ramms grimmig nicken. Es ist ziemlich genau vier Monate her, da hat der ehemalige Bundeswehrgeneral in der Sendung von Will vorausgesagt, Deutschland werde eher früher als später Leopard-Kampfpanzer liefern, wenn man die Ukraine nicht aufgeben wolle. Schließlich würden deren Panzer aus sowjetischen Beständen irgendwann alle kaputt oder zerschossen sein.

Ein verräterisches Lächeln

Ramms saß damals im Studio dem SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Müller gegenüber, der die zu jener Zeit noch weit defensivere Linie von Scholz parteisoldatentreu verteidigte. Da ist der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil von anderem Kaliber. Gestählt in Dutzenden Talkshow-Auftritten beherrscht er den Spagat zwischen Loyalität zu Scholz und Setzung eigener Akzente ziemlich virtuos. Er gibt zu Protokoll, dass er dafür sei, weitere militärische Schritte zu gehen. Und er spricht sich für einen Pakt mit der Rüstungsindustrie aus – ein für einen SPD-Vorsitzenden doch einigermaßen erstaunlicher Satz. Gleichzeitig lobt er Scholz‘ abwartende Haltung mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit als kluges und verantwortungsvolles Abwägen und widerspricht dem Vorwurf Deitelhoffs, der Kanzler erläutere seine Politik gegenüber den Bürgern zu wenig, vehement. Nur einmal fällt das Pokerface: Klingbeil kann sich ein Lächeln des Einverständnisses nicht verkneifen, als Will ironisch anmerkt, dass Macron sogar noch besser kommuniziere als Olaf Scholz.

Sönke Neitzel leidet unter der mangelnden Gesprächsbereitschaft des Kanzlers offenbar ganz persönlich. Der einzige Inhaber eines Lehrstuhls für Militärgeschichte in Deutschland (an der Universität Potsdam) äußert seine Verwunderung darüber, dass Scholz noch nicht den Austausch mit ihm gesucht habe, und bittet Klingbeil quasi um die Vermittlung eines Termins. Als Neitzel, angestachelt von der Moderatorin, dann auch noch eine Kiste guten Rotweins als Wetteinsatz für eine seiner Prognosen zum weiteren Verlauf des Ukrainekriegs anbietet, ist man geneigt, ihm eine Nachhilfestunde beim Kanzler im Fach Schweigen zu verordnen.

Ein Glücksfall für die Union

Neitzel und Will haben Glück, dass der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter dem Spuk schnell ein Ende bereitet und auf den Ernst des Themas hinweist. Jener Kiesewetter, der sich mit seiner klaren, aber verbindlichen Art immer mehr als Glücksfall für seine Partei erweist. Und zugleich – als ehemaliger Oberst des Heeres – ein Bild abgibt, das dem Idealtyp des Soldaten in postheroischer Zeit ziemlich nahe kommt: Er wirkt nachdenklich und frei von jeder Scharfmacherei, zugleich aber entscheidungsfreudig.

In der Sache weist Neitzel auf einen entscheidenden Punkt hin. Die militärische Lage der Ukraine sei weit schwieriger, als von vielen hierzulande nach den vielen Rückschlägen für die Russen angenommen werde. Diese hätten die Mobilisierung neuer Soldaten besser hinbekommen, als oft dargestellt werde. In dem Krieg gehe es jetzt darum, dass es die Ukraine im nächsten Jahr überhaupt noch gebe. Angesichts dieser Herausforderung geht es Neitzel mit der Zeitenwende hierzulande nicht schnell genug, er vermisst substantielle Fortschritte bei der Ausstattung der Bundeswehr, er spricht sogar von einem verlorenen Jahr.

Deitelhoff beurteilt die Lage freundlicher. Auch wenn es noch lange dauern werden, bis Deutschland eine Führungsmacht sei, sei doch vieles in Bewegung geraten. Auch Klingbeil mahnt Geduld an, die Einstellung in der Gesellschaft zum Militär ändere sich in einem Jahr nun einmal nicht grundsätzlich.

Man kann nur hoffen, dass die Weltgeschichte genauso geduldig mit uns und unserem Kanzler ist.

Source: faz.net