Ausstellung „Paris Magnétique – 1905–1940“ im Jüdischen Museum Berlin
Ihren Namen bekam die Bewegung erst, als sie in Gefahr war. Im Jahr 1923 kündigte die Société des Artistes Indépendants an, dass die Pariser Künstler bei ihren jährlichen Salon-Ausstellungen künftig nach Nationalitäten geordnet ihre Arbeiten zeigen sollten. Für den in Witebsk geborenen Marc Chagall, der gerade aus Moskau über Berlin nach Paris zurückgekehrt war, bedeutete das, dass er als Bürger der Sowjetunion, für den aus dem seinerzeit österreichisch-ungarischen Krakau stammenden Moïse Kisling, dass er als Pole antreten musste. Dasselbe galt für den einstigen russischen Untertan Louis Marcoussis aus Warschau, während die in der ehemals reichsdeutschen Grenzstadt Metz geborene Lou Albert-Lasard jetzt französische Staatsbürgerin war.
Viele der regelmäßig im Salon des Indépendants ausstellenden Bildhauer und Maler hatten zudem eine Herkunft gemeinsam, die über das Nationale hinausging: Sie waren Juden. Ihr Recht, in Paris zu leben und arbeiten, wurde vielfach bestritten, am nachdrücklichsten in einem Artikel in der Zeitschrift „Mercure de France“, der die in ihm gestellte Frage, ob es „eine jüdische Kunst“ gebe, zwar bejahte, jener Kunst aber zugleich jede ästhetische Qualität absprach. Gegen diese neue Form antisemitischer Demagogie wandte sich der Kritiker André Warnod in einem Aufsatz, in dem er die jüdischstämmigen gezielt neben die nichtjüdischen ausländischen Künstler in Frankreich stellte – also Jules Pascin neben Picasso, Marcoussis neben Juan Gris, Ossip Zadkine und Jacques Lipchitz neben Galanis und van Kees van Dongen. Sie alle fasste er unter einen Begriff, der zuvor für die französische Spitzenmalerei der Spätgotik geprägt worden war: die „École de Paris“.
Aber gab es diese Schule wirklich? Im Auktionswesen wird der Ausdruck vor allem für Künstler aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verwendet, deren Marktwert nicht an den von Chagall, Modigliani und Chaim Soutine heranreicht. Die Ausstellung, die das Jüdische Museum Berlin gemeinsam mit dem Musée d’art et d’histoire du Judaïsme in Paris konzipiert hat, versucht die „École de Paris“ jetzt neu aufzuwerten, indem sie ihr einerseits die drei Kunstmarkt-Stars wieder einverleibt, andererseits den Blickwinkel auf jüdische Künstler verengt. Es geht also, anders als bei Warnod, eben nicht um Picasso und Gris, sondern um jene Kunsttalente aus Ost- und Mitteleuropa, die vor 1920 nach Paris kamen, um in der französischen Metropole ihr Glück zu machen. In dieser Verkürzung liegt auch ein Stück historischer Realismus, denn Warnod konnte 1925 noch nichts von der deutschen Besetzung Frankreichs und der Schoa ahnen, der zahlreiche jüdische Mitglieder der „École de Paris“ zum Opfer fielen.
Die Ausstellung bietet einen ständigen Wechsel aus Wiederbegegnung und Neuentdeckung. Neben den Frauenbildern und Porträtskizzen von Modigliani etwa hängt ein „Kubistischer Akt“ von Moïse Kisling, der die Farbgebung des Italieners mit dem Formgefühl von Braque verbindet. Kisling war aus der Schneiderei seines Vaters nach Paris entkommen; beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete er sich freiwillig zur Fremdenlegion, wo er Blaise Cendrars kennenlernte, dessen Gedichte er illustrierte. Im nächsten Saal stehen die Frauenskulpturen der Ukrainerin Chana Orloff, die ebenso wie Kisling von Modigliani porträtiert wurde; zu ihrem Freundeskreis gehörte auch Chaïm Soutine, dessen Weg aus einem weißrussischen Schtetl über die Kunstakademie in Wilna nach Frankreich geführt hatte. Ob es die Exilerfahrung war, die, wie der Katalog spekuliert, seine Vorliebe für expressive Figurenmalerei begründete, darf man bezweifeln. Fest steht, dass Soutines Entdeckung durch einen amerikanischen Kunsthändler vielen Angehörigen der „École de Paris“ den Weg zum Erfolg bahnte. Vor der Verfolgung durch die Gestapo bewahrte sie ihn freilich nicht. 1943 starb Soutine an einer Magenblutung, weil er nicht rechtzeitig durch die deutschen Kontrollen hindurch in ein Krankenhaus gelangte.
Ein Kapitel in Ernest Hemingways postumem Erinnerungsbuch „Paris – ein Fest fürs Leben“ heißt „Mit Pascin im Dôme“. Jules Pascin alias Julius Pinkas war aus der bulgarischen Stadt Widin an die Seine gekommen; Hemingway traf ihn im Café du Dôme am Montparnasse, wo die beiden mit zwei weiblichen Modellen flirteten. In Berlin hängen sein Wimmelbild „Personnages“, das ein Dutzend Alltagsszenen zu einem Panorama vereint, und daneben eine Straßenfotografie von Marianne Breslauer, die 1929 nach Paris ging, um bei dem aus Ungarn emigrierten André Kertész zu lernen. 1930 beging Pascin Selbstmord. Ein anderer Stammgast im „Dôme“ war Oser Warszawski, der die Künstlerbohème am Montparnasse in scharfsichtigen Skizzen festhielt. Er starb in Auschwitz.
Die Ausstellung ist dennoch nicht düster. Sie führt durch drei Jahrzehnte durcheinanderwirbelnder Stile und Formen, von Sonia Delaunays Gauguin-Variationen über die kubistische Phase von Marcoussis und Alice Halicka bis zur Sachlichkeit eines Georges Kars oder Henri Epstein. Erst in den Dreißigerjahren trübt sich das Bild. Die Weltwirtschaftskrise und der Aufstieg der Diktatoren hinterlassen ihre Spuren in den Künstlerleben. Als Antwort auf den neuen Nationalismus der Kunstkritik erscheint eine Buchreihe über die „Artistes Juifs“. Schon 1928 malt Chagall einen „Dorfbewohner“, der die Thorarolle hält wie einen kranken Säugling. Dreizehn Jahre später entkommt er mit seiner Familie knapp nach New York.
Den Schlusspunkt setzt ein Memento. 1951 veröffentlicht der jiddische Journalist Hersch Fenster eine Anthologie jüdischer Schicksale in der Schoa: „Undzere Farpainikte Kinstler“. Für das Buch, das im Jüdischen Museum ausgestellt ist, verfasst Chagall ein Gedicht: „Ich stehe in der Wüste vor Bergen von Schuhen, / Kleidern, Asche und Unrat / und murmle mein Totengebet… / Der letzte Funke erlischt / der letzte Körper verschwindet. / Es wird still wie vor einer neuen Sintflut.“ Dazu passt kein Bild.
Paris Magnétique – 1905–1940. Jüdisches Museum Berlin, bis 1. Mai. Der Katalog kostet 28 Euro.
Source: faz.net