Bas zum Holocaust-Gedenken: „Wo Hass um sich greift, ist niemand sicher“

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Der Bundestag hat am Freitag der Opfer des Holocaust gedacht und dabei nicht nur an sechs Millionen von Nationalsozialisten ermordete Juden erinnert, sondern auch an die Verfolgung sexueller Minderheiten während des dritten Reiches. Eröffnet wurde die Gedenkstunde durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), die auch auf die Tötung vieler Holocaust-Überlebender durch die Angriffe Russlands auf die Ukraine verwies. Es berühre sie, dass einige ukrainische Holocaust-Überlebende mit Hilfe der Jewish Claims Conference in Deutschland Zuflucht gefunden hätten.

Heike Schmoll

Politische Korrespondentin in Berlin, zuständig für die „Bildungswelten“.

Viele meinten, die Bundesrepublik habe sich jetzt lange genug mit der Schoa beschäftigt, doch das sei ein Irrtum. „Es kann keinen Schlussstrich geben“, sagte Bas und es sei gefährlich zu glauben, wir hätten ausgelernt. „Mich beunruhigen auch Versuche, die Einzigartigkeit des Holocaust zu relativieren“, sagte sie und nannte es „eine Schande für unser Land“, dass pro Tag fünf antisemitische Straftaten in Deutschland verübt werden – und das sind nur die erfassten. „Antisemitismus ist mitten unter uns“, sagte Bas und verwies auch auf rassistische, antiziganistische und fremdenfeindliche, sowie queerfeindliche Hetze in der jüngsten Vergangenheit. „Wo Hass um sich greift, ist niemand sicher.“

Sie erinnerte an die homosexuellen, lesbischen und transsexuellen Menschen, die von den Nationalsozialisten oft für medizinische Zwecke missbraucht wurden und als sogenannte „Asoziale“ inhaftiert wurden. „Für unsere Erinnerungskultur ist es wichtig, dass wir die Geschichten aller Verfolgten erzählen“, forderte Bas. Ihr Leid sei auch nach dem Krieg nicht zu Ende gewesen. Der Paragraph 175, der Homosexualität 123 Jahre lang kriminalisierte, blieb nach Kriegsende sogar in der von Nazis verschärften Form, der selbst Berührungen und Küsse homosexueller Männer strafbar machte. Erst 1994 wurde der Paragraph 175 endgültig gestrichen. Trotz der Abschaffung des Paragraphen seien Homosexuelle und Queere in den sozialen Netzwerken einer unerträglichen Hetze ausgesetzt – selbst auf dem Christopher’s Street’s Day.

Rozette Kats spricht über ihre Geschichte

Als Holocaust-Überlebende, die keiner sexuellen Minderheit angehört, erinnerte die achtzigjährige Rozette Kats an ihr jahrelanges Doppelleben als jüdisches Mädchen in einer niederländischen Pflegefamilie mit dem Decknamen Rita. Die Eltern hatten sie im Alter von acht Monaten im Jahr 1943 dort abgegeben, bevor sie selbst mit dem neugeborenen kleinen Bruder deportiert und in Auschwitz ermordet wurden.

Am Vorabend ihres sechsten Geburtstags hatte ihr der Pflegevater gesagt, dass sie in Wirklichkeit Rozette heiße und jüdisch, sie aber keine Angst haben müsse. „Ich verstand nicht, was jüdisch war – nur dass ich dann wohl auch jüdisch war.“ Wenn sie sich nur gut anpasse und nicht weiterfrage, werde ihr schon nichts geschehen, dachte sich die damals Sechsjährige. Mehr als ein halbes Leben habe sie ein Doppelleben geführt, das sie krank machte.

Erst als 1992 eine Konferenz in Amsterdam für jüdische Pflegekinder wie sie organisiert wurde, endete das Doppelleben: „Das war meine Befreiung – ein coming out aus dem Versteck“, sagte sie. Als eine der ersten unterschrieb sie damals als nicht Betroffene die Initiative des Historikers Lutz van Dijk, auch an sexuelle Minderheiten zu erinnern. Denn sie habe nicht vergessen, „wie schlimm es ist, sich verleugnen und verstecken zu müssen“.

Für die Gedenkrede der Opfergruppe der sexuellen Minderheiten hat der Bundestag keinen Zeitzeugen mehr gefunden – die meisten Überlebenden der Verfolgung sind inzwischen verstorben. Die Schauspielerin Maren Kroymann verlas deshalb die Lebensgeschichte der Mary Pünjer, die am 28. Mai 1942 in Ravensbrück angeblich an Herzversagen gestorben war und als „kesse Lesbierin“ bezeichnet wurde, aber verheiratet war. Der Schauspieler Jannik Schümann erinnerte an Karl Gorath, einen Homosexuellen, der als Krankenpfleger die Konzentrationslager Neuengamme und Auschwitz überlebte und wegen seiner Homosexualität mehrfach inhaftiert worden war.

Klaus Schirdewahn, ein Queer-Aktivist berichtete als Zeitgenosse von seinem erzwungenen Doppelleben. Jahrzehntelang habe er nirgendwo anecken und es allen recht machen wollen und bis zum Jahr 2017 habe er auch als vorbestraft gegolten. So lange hatte es gedauert, bis sein Schuldspruch wegen Homosexualität aufgehoben worden war.

Source: faz.net