Das erste
Video beginnt verwackelt. Es zeigt, wie die Polizisten auf dem Parkplatz vor
dem Wohnblock eintreffen. Ein Nachbar sagt: “Der steht da hinten!” Ein Beamter
fragt: “Wo ist der denn? Wo ist der denn?” Jemand ruft: “Da! Da!” Die Kamera
schwenkt nach rechts. In der Ferne, am anderen Ende des Parkplatzes, steht
einen Mann, dunkel gekleidet. Die Polizisten schreiten mit schnellen Schritten
auf ihn zu.

“Messer
legen!”

“Messer weg!”

“Leg das
Messer auf den Boden!”

Das zweite
Video zeigt die Szene klarer. Im Hintergrund hört man ein lautes Martinshorn:
Verstärkung. Die zwei Beamten stehen jetzt näher an dem Mann, wie im Dreieck.
Etwa zehn Meter entfernt, wird die Staatsanwaltschaft später sagen. Er hält das Küchenmesser in der Hand. Legt es nicht weg. Als der eine Beamte seine
Arme hochnimmt, um einen Warnschuss abzugeben, reißt auch der Mann seine Arme
hoch. In einem tapsigen Seitgalopp hoppelt er auf die Polizisten zu.

Ist
das ein Angriff?

Davon
hängt fast alles ab in diesem Fall, geschehen im August 2021 im südhessischen
Groß-Gerau. Die Antwort entscheidet darüber, ob die Polizisten in Notwehr
handelten – oder ob sie sich schuldig machten. Darüber, ob Abdulkadir I.,
ein 39 Jahre alter Vater von fünf Kindern, als rechtmäßig gestoppter Messerangreifer
in Erinnerung bleiben wird. Oder als Opfer eines Todschlags.

Denn das zweite Video zeigt schließlich einen Mann, auf den geschossen wird. 14 Schüsse in vier Sekunden, von denen ihn fünf treffen: zwei in die Arme, zwei in die Beine, einer in den Fuß. Einer wird jedoch vom Oberarm in die Lunge abgelenkt. Abdulkadir I. verstirbt noch am Tatort, im Rettungswagen.

Was auf den
Videos nicht zu sehen ist: Die Beamten hatten Grund anzunehmen, dass er das Messer
auch benutzt. I. hatte damit kurz zuvor vier Menschen attackiert. Seine Mutter,
seine Ehefrau, dann zwei Nachbarn, die helfen wollten. Heute weiß man, dass der
Mann wohl psychisch krank war. So wie ein großer Teil der Menschen, die bei
Polizeieinsätzen ums Leben kommen. Genaue Zahlen gibt es nicht, der
Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes schätzt den Anteil auf drei Viertel. Auch deshalb ist es nicht nur eine strafrechtliche, sondern auch eine politische Frage, ob sich derartige Situationen auch anders lösen oder deeskalieren lassen.

I. scheint
sich auf den ersten Blick aber auch in einen Tätertyp einzureihen, der viel
Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erzeugt: ein Migrant, der Menschen wie aus
dem Nichts mit einem Messer angreift. Oft stellen sich die Angreifer danach als
schuldunfähig heraus – und oft stehen sie am Ende einer langen
Abwärtsspirale.

Auf
Abdulkadir I. trifft das nicht zu. Er zog im Jahr 2009 aus Somalia zu seiner
Frau nach Deutschland, das Paar bekam fünf Kinder. Die Leiterin des kommunalen
Integrationsbüros beschreibt ihn
als fürsorglichen und unterstützenden Menschen, der seine Mutter zur Beratung
begleitete und auch mal für andere übersetzte. Sein bester Freund erzählt von einem ambitionierten
Mann, der fast immer einen Job hatte und für die Somalier in der Gegend ein
Fixpunkt war. Einer, der im Fastenmonat Ramadan spätabends zum gemeinsamen
Kochen einlud. Der anderen half, wenn sie Möbel aufzubauen oder die Wohnung zu
streichen hatten. “Alle Lampen, die ich zu Hause habe, hat Abdulkadir aufgehängt”,
sagt der Freund.

Psychosen können wie aus dem Nichts kommen

Tathergang
und Vorgeschichte deuten stark darauf hin, dass I. im psychotischen Zustand
handelte. So sehen es Experten, die sich mit dem Fall befasst haben und mit
denen ZEIT ONLINE gesprochen hat. Psychosen können wie aus dem Nichts kommen und nach
allem, was bekannt ist, hatte auch I. keine längere Krankheitsgeschichte. Seine Frau
sagt, ihr Ehemann sei glücklich gewesen. Glücklich über seinen neuen Job als
Busfahrer, den er in der Woche nach der Tat eigentlich hätte antreten sollen.
Und glücklich über seine fünf Kinder, mit denen er immer Playstation spielte. “Sie
waren wie Freunde”, sagt die Witwe. Doch zwei oder drei Wochen vor der Tat habe
er plötzlich Schlafstörungen bekommen. Er sei zum Hausarzt gegangen und habe
sich etwas verschreiben lassen. Offenbar half es ihm nicht.

Es war neun
Uhr abends an einem Dienstag im August 2021, als bei der Leitstelle der Polizei
der erste Notruf einging. Am Telefon war die Tochter von I., sie sagte, ihr Vater
greife die Oma an. Als die Beamten wenige Minuten später den Tatort erreichten,
trafen sie auf einen Täter, der zwischenzeitlich noch drei weitere Menschen verletzt
hatte. Einerseits.

Andererseits stand
I. inzwischen für sich, weit hinten auf dem langen Parkplatz. Nachbarn berichten
später, er habe wirr vor sich hingeredet. Er habe gelächelt. Manche sagen, sie
hätten Angst gehabt, das nächste Opfer zu sein. Andere sagen, die Beamten
hätten zu schnell geschossen.

Deutsche Polizei
tötet Schwarzen Mann – das wird in aller Regel automatisch zum Politikum. In
diesem Fall war es anders. Der Schwager erzählt, viele Leute hätten ihnen nach
der Tat vorgeschlagen, man könne Demonstrationen veranstalten. Aber sie hätten
keine Lust gehabt, “Propaganda” zu machen, der Polizei Rassismus vorzuwerfen.
Sie hätten auf den Rechtsstaat vertraut. Darauf, dass die Umstände von
Abdulkadirs Tod schon aufgeklärt werden. “Uns geht es nicht darum, die
Polizisten zu verurteilen oder hängen zu sehen oder sonst was”, sagt er. “Das
sind auch Menschen, es können Fehler passieren.” Es gehe einfach darum, dass ermittelt
werde: “War das wirklich notwendig?”

Um eine gründliche Aufarbeitung also, die aus Sicht der Familie bislang nicht stattgefunden hat.

Die
Staatsanwaltschaft leitete ein Verfahren wegen Totschlags gegen die beiden
Polizisten ein. Das ist Routine, wenn jemand bei einem Polizeieinsatz
ums Leben kommt. Ende September vergangenen Jahres, 13 Monate nach der Tat, stellte sie die Ermittlungen
ein. “Die Beamten schossen in Notwehr, so dass ihr Verhalten gerechtfertigt
war”, schreibt ein Sprecher der ZEIT. Der Gebrauch der Schusswaffe sei nach den
Regelungen der Hessischen Polizeigesetze erlaubt und geboten gewesen. “Er
diente der Abwehr eines gegenwärtigen Angriffs mit einem Messer und war
geeignet, erforderlich und angemessen, um diesen Angriff zu stoppen.”

Stephan Kuhn, der Anwalt der Hinterbliebenen, hat dagegen Beschwerde eingelegt. Er
sagt: “Der Umgang der Staatsanwaltschaft mit dem Verfahren ist schlicht nicht
nachvollziehbar.” Die Ermittlungen hätten über Monate ohne ersichtlichen Grund
stillgestanden. Seine Anträge auf Akteneinsicht seien mitunter offenbar knapp
zwei Monate lang nicht gelesen worden.

Kuhn
kritisiert, dass kein einziger Polizeibeamter als Zeuge vernommen wurde. Dass
die Ermittler kein videoforensisches Gutachten bestellten, mit dem sich etwa
die Entfernung zwischen Beamten und mutmaßlichem Angreifer genauer hätte
bestimmen lassen. Und dass die Ermittlungsakte mit nur 400 Seiten für ein
Verfahren in einem Tötungsdelikt ungewöhnlich kurz ist – wie auch die
Begründung für die Einstellung, die sich mit wesentlichen Fragen erst gar nicht
auseinandersetze.

Eine dieser
Fragen wäre: Warum schossen die Beamten weiter, als Abdulkadir I. schon eins
seiner Beine wegzog und nach vorn kippte?

Anwalt
Stephan Kuhn sagt, es seien danach noch mindestens sechs bis acht Schüsse
gefallen. Von einer vermeintlichen Notwehrlage seien all diese Schüsse nicht
mehr gedeckt. “Auch der tödliche Schuss muss danach abgegeben worden sein”,
sagt Kuhn, so hätten es die Ermittlungen ergeben. Der eine Beamte hätte sogar
auch dann noch auf I. geschossen, als dieser bereits auf dem Boden lag.

Kritik an den Ermittlungen

Der Sprecher
der Staatsanwaltschaft schreibt, man habe nicht feststellen können, dass die
Beamten vorsätzlich noch Schüsse abgegeben haben, als der später Verstorbene
schon erkennbar kampfunfähig war. “Es handelte sich insoweit um ein dynamisches
Geschehen, welches in Sekunden oder sogar Bruchteilen von Sekunden ablief.”

Eine andere
Frage ist: Hat Abdulkadir I. die Beamten angegriffen? Genauer gesagt: Lag ein “gegenwärtiger rechtswidriger Angriff” vor, wie es im Notwehrparagrafen heißt?

Kuhn sagt,
Abdulkadir I. habe sich zwar nach der Warnschussabgabe weiter in Richtung der Beamten
bewegt. Aber nicht schnell – und nicht in Angriffshaltung. Sondern im
Seitgalopp, mit erhobenen Händen. Ein schnelles Zubewegen sei so gar nicht
möglich.

Der Sprecher
der Staatsanwaltschaft schreibt, dass insbesondere Messerangriffe
außerordentlich gefährlich seien. “Selbst Distanzen von, wie hier ca. 10
Metern, später ca. 5 Metern, sind in aller kürzester Zeit überwunden und der
Einsatz des Messers ist dann kaum zu verhindern.” Bei Tätern, die sich eines
Messers bedienten, seien Beamte zu größter
Vorsicht aufgefordert.

Eine dritte
Frage: Hätte sich die Lage nicht vorher deeskalieren lassen?

Kuhn sagt,
die Beamten hätten die vermeintliche Notwehrlage selbst hergestellt, indem sie sehr
schnell und viel zu nah an I. herangingen. Der habe zu dem Zeitpunkt niemanden
mehr gefährdet und sich auch nicht auf umstehende Personen zubewegt. Zudem zeigten
die Martinshorngeräusche auf den Tatvideos, dass gerade Verstärkung
eingetroffen sei. “Den unmittelbaren Handlungsdruck verursachten die Beschuldigten
also mutwillig selbst.”

Der
Sprecher der Staatsanwaltschaft schreibt, das Vorgeschehen sei sowohl bei den Ermittlungen
als auch der abschließenden Entscheidung berücksichtigt worden. “Unabhängig
davon erachten wir aber eine Notwehrlage für gegeben.”

Die Kritik an
den Ermittlungen weist er zurück: “Aus Sicht der Staatsanwaltschaft hat eine
umfassende Prüfung des Sachverhalts stattgefunden.” Einen Stillstand der
Ermittlungen habe es nicht gegeben, viel mehr habe man die Stellungnahmen der
Anwälte und Untersuchungen abwarten müssen.

Warum
keine Polizisten als Zeugen vernommen wurden? “Da den eingesetzten Polizeibeamten ihre
Verpflichtung, wahrheitsgemäße Angaben machen zu müssen, bekannt ist, sind
dienstliche Vermerke in der Regel ausreichend.”

Die Verteidiger der Polizisten wollten sich auf Anfrage von ZEIT ONLINE derzeit nicht
äußern. Von dem Beamten, der den tödlichen Schuss abgab, weiß man, dass er
Anfang 20 war. Am Abend, als Abdulkadir I. starb, fuhr er einen seiner ersten
Streifendienste nach der Ausbildung.