“Tages-Anzeiger”-Magazin: Im Zwielicht
Am vergangenen Sonntagabend um 22.04 Uhr geht die Chefredaktion von Tamedia in die Offensive. “Stellungnahme zum Spiegel-Artikel” ist der Text überschrieben und prominent auf der Website des Tages-Anzeigers platziert. Das Sechsergremium schreibt: “In einer Führungskultur, wie wir sie in unserem Haus erwarten, hätte es zu einem solchen Konflikt gar nicht erst kommen dürfen.” Es ist ein unerwartetes Eingeständnis in einem Fall, der schon jahrelang andauert und in diesen Tagen vollends eskaliert. Ein Konflikt, der nicht nur viel darüber erzählt, wie ruppig und vulgär es in einigen Schweizer Redaktionen zu- und herging und -geht. Sondern auch darüber, was im Haus an der Werdstrasse, wo die Tamedia-Redaktionen sitzen, grundsätzlich schiefläuft.
Was ist passiert?
Am vergangenen Freitagnachmittag veröffentlicht Anuschka Roshani, eine ehemalige Magazin-Redakteurin, eine Ich-Geschichte im Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel, wo sie von 1995 bis Ende 2001 arbeitete. Sie beschreibt im Text, wie Finn Canonica, der frühere Chefredakteur des Magazins, der Wochenendbeilage der Zürcher Tageszeitung Tages-Anzeiger, sie jahrelang mit verbalen Herabsetzungen entwürdigt und gemobbt haben soll.
Er soll sie “die Ungefickte” genannt haben, wenn er mit anderen über sie sprach. Ihr selbst habe er einmal ins Gesicht gesagt, dass ihr Mann “einen kleinen Schwanz” habe. Habe sie in Texten statt eines schweizerischen Begriffs deutsche Ausdrücke wie “sahneweiß” oder “Kekse” verwendet, habe Canonica ein kleines Hakenkreuz an den Rand des Manuskripts gezeichnet.
Am Samstag veröffentlicht ZEIT ONLINE eine monatelange Recherche über die Vorwürfe und die Zustände in der Magazin-Redaktion. Fünf ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des “Tagi-Magi”, wie das Magazin auch genannt wird, bestätigten, dass Finn Canonica die Redaktion nach dem Prinzip inner circle und outer circle geführt habe. Entweder sei man für ihn oder gegen ihn.
Im November reichte Roshani Klage gegen die Tamedia AG ein, weil das Unternehmen unterlassen habe, Maßnahmen zu ihrem Schutz zu ergreifen und die Vorfälle mit Canonica rasch abzuklären. Ende Dezember wurde Roshani entlassen.
Der Blick, die NZZ, die Süddeutsche Zeitung berichten am Wochenende über den Fall. Aber auch 20min.ch, das wie das “Tagi-Magi” zum Tamedia-Mutterkonzern, der TX Group, gehört. Der persönliche Anwalt von Finn Canonica und ein Tamedia-Sprecher reagieren mit vorgefertigten Statements: “Die Vorwürfe treffen nicht zu und werden vehement bestritten.” Und: “Die Untersuchung des Falles ergab, dass sich die von Frau Roshani in diesem Zusammenhang geäußerten Vorwürfe zu einem großen Teil nicht bestätigten.”
Am Sonntagabend dann ergreift die Tamedia-Chefredaktion die Flucht nach vorn: “Wir sind uns bewusst, dass es in der Vergangenheit in dieser Hinsicht Versäumnisse gegeben hat und dass die Aufklärung in diesem Fall zu lange gedauert hat”, schreiben der Chefredakteur Arthur Rutishauser und seine Kollegen Adrian Zurbriggen, Michael Marti, Iwan Städler, Raphaela Birrer und Kerstin Hasse. Bereits ein paar Stunden zuvor, kurz vor Sonntagmittag, wandte sich die Tamedia-Geschäftsleitung in einer Mail an ihre Belegschaft. Nur Minuten später gelangt das Schreiben an die Öffentlichkeit.
Die Geschäftsleiter Andreas Schaffner und Mathias Müller von Blumencron schreiben darin: “Tamedia hat die Vorwürfe von Frau Roshani sehr ernst genommen und sorgfältig überprüft. Eine externe Kanzlei wurde mit einer unabhängigen Untersuchung beauftragt.” Nach Abschluss der Untersuchung im Mai 2022 habe sich herausgestellt, dass sich “ein erheblicher Teil der Vorwürfe, insbesondere der Vorwurf sexueller Belästigung, nicht bestätigen” ließ.
Der Mail angehängt ist eine kurze, vierseitige Zusammenfassung des externen Untersuchungsberichts, verfasst von der Kanzlei Rudin Cantieni Rechtsanwälte. Darin steht, dass sich die “pauschalen Vorwürfe gegenüber Finn Canonica” nicht erhärten ließen. Aber: Beim Vorwurf der sexualisierten und fäkalisierten Sprache habe sich gezeigt, dass Finn Canonicas Sprachgebrauch “teils unangemessen” sei. “Ebenfalls als erstellt gelten muss die Hakenkreuz-Redigatur, die sich bis in die jüngere Vergangenheit zieht und mehrfach belegt ist.”
Die Medienszene in der Schweiz ist sehr klein
Auch gegen Anuschka Roshani waren während der externen Untersuchung von Finn Canonica und mehreren anderen Befragten zahlreiche Vorwürfe erhoben worden. Sie wurden von der externen Kanzlei geprüft. Im Bericht kommt diese zum Schluss, dass “ein Teil dieser Vorwürfe nicht erhärtet werden” konnte. Aufgrund der Befragungen müsse aber davon ausgegangen werden, “dass Anuschka Roshani seit Längerem gegen ihren Vorgesetzten agierte, sich im Team und zulasten von anderen Mitarbeitenden viel erlauben konnte und – auch berechtigte – Kritik nicht akzeptierte”. Belege dafür liefert die Kurzzusammenfassung des Berichts keine.
Die Tamedia-Chefredaktion schreibt in der Stellungnahme vom Sonntagabend, dass man sich wegen der Untersuchungsergebnisse im Sommer 2022 von Finn Canonica getrennt habe. “Aufgrund des Berichtes hat sich unser Haus auch von Anuschka Roshani getrennt, weil es keine Basis für eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit sah.”
Roshani hatte mit dem Ich-Text ihre Seite des Falls publik gemacht. Canonica hingegen schwieg bisher. Er kommunizierte nur über seinen Anwalt Daniel Werder von der renommierten Arbeitsrechtskanzlei Streiff von Kaenel. Bis am Montagabend ein mehrseitiger Brief von Finn Canonica an “liebe Freund:innen und Bekannte” in der Zürcher Medien-Bubble kursiert. Aufgesetzt wurde das Schreiben am Sonntag um 22.48 Uhr. Der Titel: “Fall Roshani”. Sein Anwalt bestätigt die Echtheit des Dokuments. Canonica schreibt darin: “Liest man den Text (von Anuschka Roshani, Anm. d. Red.), muss der Eindruck entstehen, ich sei ihr gegenüber ein Monster gewesen. Es ist mir wichtig zu schildern, was wirklich war.” Die Hakenkreuze seien ein Witz gewesen, den er sehr bedauere. “Aus heutiger Sicht würde ich das niemals mehr tun.” Damals habe er darin kein Problem gesehen, weil er mit Anuschka befreundet gewesen sei und sie “zusammen auch mal privat etwas unternommen” hätten.
Weiter schreibt Canonica, dass die Redaktion des “Tagi-Magis”anders funktioniere als andere Arbeitsplätze: Die Sprüche unter Journalistinnen und Journalisten seien oft derb, man nehme sich hoch, man sei “ein kleines Team, das sich gut kennt. Ähnlich wie eine Sportmannschaft.” Roshani habe sich nie über die Hakenkreuze beschwert, “sondern das mit Humor hingenommen”. Er, dessen Mutter eine französische Jüdin und eine Holocaust-Überlebende gewesen sei, habe sich “Witze über Juden” anhören müssen: “Diese Art von Humor war zwischen uns und allen anderen Kolleginnen normal.”
Die vorläufige Bilanz der Geschichte: Ein Chefredakteur weg, eine langjährige Redakteurin weg. Ein Haus in Aufruhr.
Dass es so weit kam, ist, im Nachhinein betrachtet, kaum überraschend. Der Führungsstil von Canonica war in der Branche seit Langem bekannt. Bereits in den Jahren 2014 und 2017 berichtete das Branchenmagazin Schweizer Journalist über das “unerträgliche Klima der Angst” in der Magazin-Redaktion. Unter den Schweizer Journalistinnen und Journalisten machten die Hakenkreuz-Redigaturen von Canonica und sein Umgang mit weiblichen Kolleginnen und Praktikantinnen schon lange die Runde. Recherchen darüber, unter anderem von der NZZ, versandeten, oder die Quellen wollten im letzten Moment doch nicht zitiert werden, auch nicht anonym.
Kein Wunder. Die Medienszene in der Schweiz ist sehr klein. Mit Tamedia, Ringier, CH-Media und der NZZ dominieren vier private Unternehmen den Markt, dazu kommt die öffentliche SRG. Jeder kennt jede, und alle wissen: Man begegnet sich hierzulande im Lauf einer Karriere mindestens zweimal. Wer es sich mit der Konkurrenz verscherzt, weil er dortige Missstände aufdeckt und in seinen Artikeln benennt, muss damit rechnen, in jenem Haus nie eine Stelle zu erhalten. Und weil sich das Job-Karussell munter dreht, Führungspersonen häufig einmal die Runde von der Werd- (Tamedia) an die Dufour- (Ringier), an die Falkenstrasse (NZZ) und nach Aarau (CH-Media) machen, müssen allzu branchenkritische Kolleginnen und Kollegen damit rechnen, mit ihren Recherchen gleich mehrere künftige Arbeitgeber zu vergraulen. Schweigen ist einfacher.
Teil dieses Klüngels ist auch die hiesige Verlagsbranche. So verlegt zum Beispiel Roshanis Ehemann Peter Haag in seinem Verlag Kein & Aber unter anderem die Bücher von Magazin-Autoren wie Nina Kunz, Max Küng, Hannes Grassegger, Mikael Krogerus oder Konstantin Richter, der im Verwaltungsrat der TX Group sitzt.
Im März 2021 beklagten sich 78 Redakteurinnen, darunter die Co-Autorin dieses Texts, die damals beim Tages-Anzeiger arbeitete, in einem Schreiben an die Geschäftsleitung und die Chefredaktion über das Arbeitsklima in den Tamedia-Redaktionen. “Es herrscht eine von Männern geprägte Betriebskultur”, schrieben sie im sogenannten Frauenbrief. Der Umgangston sei harsch, Frauen würden von “Beleidigungen durch Vorgesetzte” berichten, “die von anderen Personen mit Cheffunktion entschuldigt und toleriert werden”.
Tamedia gelobte, sich zu bessern. In einer Mitarbeiter-Mail, die die Geschäftsleitung ein Jahr nach dem Frauenbrief verschickt, listet sie eine Reihe von Maßnahmen auf, die Tamedia ergriffen hat. Dazu gehören eine verbindliche Frauenquote auf allen Stufen, eine Mitarbeitendenbefragung zu den Themen “Diversity & Inclusion”, Lohnanalysen, ein Sprachleitfaden für inklusive Sprache, obligatorische Schulungen für Führungskräfte zu den Themen “Unconscious Bias” und “Sexualisierte Übergriffe im Berufskontext”.
Die mächtigsten Strukturen blieben unangetastet
Aus Deutschland wird Christine Lüders, die frühere Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, als externe Beraterin engagiert, um den Mobbing- und Diskriminierungsfällen nachzugehen, die im Frauenbrief geschildert worden waren. Seit 2022 sitzen mit Raphaela Birrer und Kerstin Hasse zwei Frauen in der Chefredaktion von Tamedia – davor war die Runde ausschließlich männlich besetzt.
Aber die mächtigsten Strukturen blieben unangetastet. Arthur Rutishauser, der direkte Vorgesetzte von Finn Canonica, ist seit 2018 für die Tamedia-Redaktionen verantwortlich. Pietro Supino, an den Rutishauser rapportiert, präsidiert seit 2007 als Verleger den Verwaltungsrat der TX Group. Am Schluss sind sie beide dafür verantwortlich, dass bei Tamedia “Respekt, Wertschätzung und eine darauf beruhende Führungskultur” herrschen, wie die Chefredaktion in ihrer Stellungnahme zum Spiegel-Artikel schreibt.
Aner Voloder ist Jurist und Projektleiter und arbeitet bei der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich. Er sagt: “In vielen Unternehmen fehlt noch immer das Bewusstsein dafür, was belästigendes Verhalten genau bedeutet und mit sich bringt.” Häufig werde das Thema individualisiert. Zum Beispiel wenn eine Betroffene, die sich einer Person aus dem Unternehmen anvertraue, als überempfindlich abgestempelt oder die Tat der beschuldigten Person verharmlost wird. Mit solchen Reaktionen werde die Empfindung der Betroffenen bagatellisiert, sagt Voloder. “Wie sollen sie dann noch die Kraft finden, für sich einzustehen und sich zu wehren?” Der Jurist sagt: Jede Person habe das Recht darauf, dass ihre persönliche Integrität am Arbeitsplatz geschützt werde. Dies verlange das Gleichstellungsgesetz. Das heißt: Grundsätzlich entscheide jede Person für sich, wann ihre Grenzen überschritten worden seien. “Das subjektive Gefühl gilt.”
Voloder beobachtet, dass Unternehmen in der Schweiz oft erst intervenieren, wenn die Hütte brennt. Durch das Gleichstellungsgesetz sind alle Unternehmen aber auch zur Präventionsarbeit verpflichtet. Sie müssen möglichst verhindern, dass es überhaupt zu solchen Vorfällen kommt. Dazu gehört ein klares Bekenntnis der Geschäftsleitung “bei jeder sich bietenden Gelegenheit”, sagt Voloder. Als Beispiel nennt er die jährlichen Mitarbeitendengespräche: “Führungskräfte können in diesen persönlichen Gesprächen das Klima im Unternehmen thematisieren und so auch in Erfahrung bringen, wie es ihren Angestellten geht.” Notwendig sei aber auch ein Reglement, in dem steht, was Beschuldigten bei sexueller Belästigung, Bossing, Mobbing und Diskriminierung drohe – und wohin sich Betroffene wenden können. Also beispielsweise eine Anlaufstelle mit Schweigepflicht, die so niederschwellig zu erreichen ist wie das Urlaubsbuchungs-Tool der Firma: “Eine Führungsperson kann aus verschiedenen Gründen nicht immer und von allen erwarten, dass sie sich direkt an sie wenden.”
Als der Tages-Anzeiger im Jahr 2017 über das “Tööplen” von Werner de Schepper recherchiert, dem damaligen Co-Chefredakteur der Schweizer Illustrierten, und dafür mit 28 Ex-Mitarbeiterinnen, Vorgesetzten und Bekannten spricht, lässt der Ringier-Verlag ausrichten: In seiner Personalakte lägen keine Beschwerden vor. De Schepper entschuldigt sich bei seiner Redaktion und blieb noch bis 2022 im Amt. Heute leitet er, zusammen mit Susanne Walder, der Frau von Ringier-CEO Marc Walder, das verlagseigene Heft Interview.
Vier Jahre später ist es mit einer Entschuldigung nicht mehr getan. Das Westschweizer Radio- und Fernsehen RTS entlässt im Sommer 2021 zwei Kadermitarbeiter. Eine externe Untersuchung ist zum Schluss gekommen, dass bei RTS Mobbing und Übergriffe systematisch seien. “Angestellte wurden nicht angehört; es gab keine Sensibilitäten für ihre Leiden; Privat- und Berufsleben wurden ständig vermischt, und die Persönlichkeitsrechte Einzelner wurden verletzt”, sagte damals eine der beauftragten Anwältinnen. Es habe über 20 Jahre ein “Gesetz des Schweigens” geherrscht.
Der heutige SRG-Direktor und frühere RTS-Chef Gilles Marchand war zumindest in einem Fall informiert gewesen. Er sagte: “Ich habe 2014 eine Fehleinschätzung im Aufsichtsbereich gemacht.” Das Unternehmen setzte ein ganzes Maßnahmenbündel um. Es gibt obligatorische Kaderkurse, jährliche Monitorings, Berichte an die Geschäftsleitung und eine antisexistische Charta für die gesamte SRG.
Und was macht nun Tamedia?
Bis zum nächsten Montag hat das Unternehmen Zeit, um die Klage von Anuschka Roshani zu erwidern. Für Mittwoch um 14 Uhr – nach Redaktionsschluss der ZEIT – hat die Geschäftsleitung von Tamedia eine Vollversammlung angekündigt.
Transparenzhinweis: Salome Müller, die Mitautorin dieses Textes, arbeitete fast sieben Jahre als Redakteurin bei Tamedia. Sie gehörte zu den Initiatorinnen des sogenannten Frauenbriefs. Ende Juli 2021 verließ sie das Unternehmen. Seit Februar 2022 arbeitet sie im Schweizer Büro der ZEIT.