„Das ist keiner, den man einfach so freilaufen lassen kann“
Am kommenden Mittwoch wird Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) bei einer Sitzung des Justizausschusses der Hamburgischen Bürgerschaft erneut für sie und ihre Behörde unbequeme Fragen beantworten müssen – und dabei dürfte auch eine Rolle spielen, was sich aus neuerlichen Recherchen ergibt, die sich mit der Haftzeit und der Phase der Entlassung von Ibrahim A. beschäftigen. Demnach gibt es, wie der NDR jetzt berichtet, neue Ungereimtheiten rund um psychologische Gutachten.
Ibrahim A., der am 25. Januar 2023 im Regionalzug von Kiel nach Hamburg zwei junge Menschen tötete und mehrere weitere verletzte, sei demnach eine Woche vor der Tat aus der Hamburger Untersuchungshaft entlassen worden, ohne dass es eine umfassende psychiatrische Untersuchung über seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit gegeben hatte. Wie der NDR erfahren hat, handelte es sich bei der psychiatrischen Untersuchung am 18. Januar 2023, über die schon berichtet worden war, lediglich um einen von 16 Regelterminen durch einen Psychiater des Universitätskrankenhauses Hamburg-Eppendorf (UKE), nicht aber um ein Prognosegutachten für die Zeit nach der Haftentlassung. Die daraus resultierende Diagnose, nach der keine Fremd- oder Eigengefährdung vorliegen würde, bezog sich mithin auf die Haftsituation, nicht aber auf eine Zeit nach der Entlassung. Der behandelnde Psychiater habe zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht gewusst, dass Ibrahim A. kurz vor der Entlassung stand, er hatte sogar einen Folgetermin für den 25. Januar vereinbart – für den Tag also, an dem der zwischenzeitlich entlassene Palästinenser seine Attacke im Regionalzug Kiel-Hamburg durchführte.
Der NDR konnte auch in einem anonymisierten Interview mit einem JVA-Beamten sprechen, der Ibrahim A. während seiner Haft in Hamburg erlebt hatte. Demnach sei Ibrahim A. ein sehr anstrengender Insasse gewesen. Er habe die Beamten zeitweise 24 Stunden am Tag beschäftigt. Der JVA-Mitarbeiter beklagt die fehlende Anhörung des JVA-Personals: „Da wurden wir mit Sicherheit zu wenig gehört, weil der Psychiater hätte das, hätte er unsere Erkenntnisse gehabt, wahrscheinlich ganz anders gesehen. Dann hätte er gesehen, das ist keiner, den man einfach so freilaufen lassen kann, sondern den man wieder geschlossen und dementsprechend professionell behandelt unterbringen muss, um so etwas Schlimmes zu vermeiden.“
Zuletzt war bekannt geworden, dass Ibrahim A. sich in der Untersuchungshaft auch mit dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz Anis Amri verglich. Demnach hatte Ibrahim A. im August 2022 zu Gefängnis-Bediensteten gesagt: „Es gibt nicht nur einen Anis Amri, es gibt mehrere, ich bin auch einer.“ Amri hatte 2016 einen Lkw in den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz gesteuert. Bei dem Anschlag waren 13 Menschen gestorben. Die Justizbehörde sagte auf Anfrage, dass es nach Aufhebung des Haftbefehls durch das Landgericht keine rechtliche Grundlage gegeben habe, Ibrahim A. weiter festzuhalten. Ihm seien aber für Übernachtungen Adressen der Winternothilfe mitgegeben worden.
Der Anwalt des Beschuldigten gab am Freitag an, dass sein Mandant sich erst in einer Hauptverhandlung zu den Vorwürfen und Umständen äußern wolle.
Source: welt.de