Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 06/2023, und stammt aus unserem Ressort X. Alle Texte und Schwerpunkte des Ressorts finden Sie hier.

1.

Die Mungos tauchen plötzlich hinter einem Dornenbusch auf. Erst hält man sie für sehr große, sehr dicke Ratten. Der Biologe Michael Cant startet seine Kameradrohne, ein rot, gelb und grün blinkendes Gerät, das während des Starts so laut ist, dass man sich anschreien muss, um etwas zu verstehen. Cants Assistenten tragen mehrere Stücke Kot auf einem Steintablett auf eine Lichtung. Aus den Lautsprechern, die Cants Team mitgebracht hat, kommt schriller Lärm. Das Kriegsspiel kann beginnen.

Zebramangusten, wie die Tiere mit vollem Namen heißen, leben in einem großen Bogen von Afrika, der von Mosambik im Süden bis in den Senegal im Westen reicht. Sie mögen Savannen, offene Wälder, dorniges Buschland. Sie sind entfernt mit Hyänen verwandt, aber davon ist nicht mehr viel zu sehen. Die Tiere sind etwas kleiner als ein Waschbär. Sie haben dichtes Fell, kurze Beine, lange Körper, spitze Nasen – und die Statur und Eleganz eines Frettchens. Sie sind irgendwie niedlich und abstoßend zugleich.

Zebramangusten sind das wohl kriegerischste Säugetier der Welt, nach dem Menschen. Sie sehen harmlos aus. Aber die Tiere tragen heftige, grausame Kämpfe zwischen Gruppen aus, regelrechte Schlachten. 

Eine Gruppe Zebramangusten mit Jungtieren bei der Mittagsruhe

Michael Cant hat erstaunliche Dinge über die Tiere herausgefunden. Was er entdeckt hat, kann uns helfen zu verstehen, wieso auch der Mensch wieder und wieder Krieg führt. Und mehr als das: Die Mangusten weisen uns möglicherweise einen Weg, wie wir den Krieg hinter uns lassen können; einen Weg zum Frieden.

Es ist noch früh am Morgen an diesem Dezembertag. Die Nacht war kühl, aber die Luft wärmt sich schnell auf im Queen-Elizabeth-Nationalpark, einem der größten Naturschutzgebiete Ugandas. Cant hat sein Forschungslager in Mweya aufgeschlagen, einer Halbinsel am Ufer des riesigen, krokodilverseuchten Eduardsees. Die Landschaft ist wild, voller Dornenbüsche und Euphorbia-Bäume, deren runde Kronen aussehen wie aufsteigende Ballons. 

Mit der Fernbedienung steht Cant in der Sonne. Er kneift die Augen zusammen. Der Schweiß läuft ihm das Gesicht runter. Cant imitiert an diesem Morgen eine Invasion. Die Zebramangusten sollen denken, dass eine feindliche Gruppe auf ihr Territorium eingedrungen ist. Deshalb der Kot, der nach fremden Tieren riecht. Deshalb der Lärm aus den Lautsprechern, der nach dem Kriegsschrei einer anderen Mungogruppe klingt. Mit den Bildern, die die Drohne macht, möchte Cant verstehen, wie die Tiere sich bewegen, im Moment der Gefahr.   

Hilfe von oben: Drohnenaufnahmen helfen Cant, die Gruppendynamiken der Tiere zu verstehen.

Die Zebramangusten sind nervös, schon bevor der Schrei aus den Lautsprechern kommt. Robert Businge, ein Mitarbeiter von Cant, ein lakonischer Mann, der so viel Zeit mit den Tieren verbracht hat, dass er ihre merkwürdige Psychologie verinnerlicht hat, sagt: “Das Gelände ist zu offen. Es ist der Rand ihres Territoriums. Sie sind nicht gerne hier.” 

Die Gegend wurde vor kurzer Zeit gerodet. Die Büsche sind nicht ganz so dicht wie anderswo im Nationalpark. Als der Schrei aus den Lautsprechern kommt, bricht Hektik aus. Die Mangusten hoppeln zeitgleich in die Büsche, als wäre ein Hornissenschwarm hinter ihnen her. Und dann ist plötzlich alles still. Sie sind weg, geflohen.

Cant hat mit der Drohne alles beobachten können. Später wird er das Video zeigen. Aus der Luft wird erkennbar, dass die Flucht, die am Boden chaotisch wirkte, in Wahrheit einer Choreografie folgt: Nach dem Kriegsschrei laufen die Tiere an einem Punkt hinter den Büschen zusammen, wo sie sich wild aneinanderreiben, in einem riesigen, nervösen Fellball. Dann prescht plötzlich eines der Tiere vor, weg von dem Geruch, weg von dem Kot, den man ihnen so taktlos hingelegt hat. Wie ein Fischschwarm wirken sie aus der Vogelperspektive: schnell, geschmeidig und auf eine fast unheimliche Art und Weise flüssig, als würden sie nicht laufen, sondern gleiten. Ein Tier, das sich bewegt wie ein einziger großer Organismus.

Die Zebramangusten reagieren auf den Alarmruf, den Cant ihnen vorspielt

2.

Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 wird wieder über eine alte Frage nachgedacht: Wieso führt der Mensch Krieg? Wieso hört das immer noch nicht auf, auch heute nicht? Was treibt uns dazu?

Die meisten Antworten bleiben beim Menschen, seiner Psychologie, seinem Gruppenverhalten, seiner Geschichte. Vielleicht aber ist dieser Blick zu eng. Möglicherweise ist es Zeit, grundsätzlicher zu werden, vom Menschen wegzutreten und auf die Natur, auf die Tiere zu schauen – und auf das, was wir dort über den Krieg lernen können. Es ist erstaunlich viel.   

Der Mensch ist nicht das einzige Lebewesen, das Krieg führt. Der Krieg des Menschen ist nur spektakulärer, sichtbarer, lauter, weil wir ihn mit Gewehren, Mörsern, Minen, mit Schiffen und Kampfjets und Bomben führen, die ganze Landstriche verwüsten. Aber es ist ein Missverständnis, dass er allein ein menschlicher Makel ist. Auch Tiere greifen Artgenossen in großen Gruppen an. 

Einige Ameisenarten bekriegen sich in Schlachten, bei denen Zehntausende Ameisen sterben. Sie verfolgen ihre Gegner oft bis zur kompletten Vernichtung. In einem Dauerkonflikt zwischen zwei riesigen Kolonien im U.S.-amerikanischen San Diego werden mehr als 30 Millionen Ameisen jedes Jahr getötet. Die berühmten Ameisenforscher Edward O. Wilson und Bert Hölldobler haben einmal geschrieben: “Wenn Ameisen Atomwaffen hätten, würden sie die Welt vermutlich innerhalb einer Woche auslöschen.” 

Termiten beißen ihre Feinde mit ultraschnellen Gebissen tot oder vergiften sie mit chemischen Waffen. Bienen überfallen die Stöcke anderer Völker, um ihre Behausung zu übernehmen und ihre Essensvorräte zu rauben. Eichelspechte liefern sich tödliche Gruppengefechte um – genau – Eicheln, welche die Tiere in Baumstämmen sammeln. Bis zu 40 Vögel hacken sich dabei über mehrere Tage immer wieder mit ihren Schnäbeln.

Die brutalste Welt aber ist die der allerkleinsten Lebewesen: Bakterien und anderen Mikroben erstechen sich mit winzigen Speeren, beißen die Zellwände ihrer Gegner durch, vergiften einander und sprengen sich gegenseitig bei Selbstmordangriffen in die Luft. Es sind Kriege, die mit Millionen von Klonen geführt werden. 

Das Leben in den höheren Lebensformen ist im Vergleich friedlich, geradezu idyllisch. Die allermeisten Säugetiere sind Pazifisten. Laut einer Schätzung aus der Fachzeitschrift Nature wurden nur 0,3 Prozent aller toten Säuger von Mitgliedern der eigenen Spezies getötet. Die meisten Säugetiere tragen ihre Konflikte ohne Blutvergießen aus. Anders als Bakterien können sie nicht in kürzester Zeit Millionen Kopien von sich selbst erstellen. Das hat sie umsichtiger, vorsichtiger, risikoscheuer gemacht. 

Unberechenbare Nachbarn: Die Elefanten des Nationalparks sind bekannt dafür, dass sie hin und wieder Autos von Touristen und Forschern angreifen.

Es gibt mehr als 6.000 Säugetierspezies auf der Welt. Und wir, der Mensch, sind die Ausnahme. Wir gehören zu jener kleinen Gruppe von weniger als zehn Säugetieren, die regelmäßig Artgenossen in großer Zahl umbringt. Dazu zählen: unsere engsten Verwandten, die Schimpansen, Südamerikanische Klammeraffen, Löwen, Wölfe, Hyänen. Und: die kleinen Zebramangusten. 

Die Mangusten sind dabei die einzige bekannte Säugetierspezies neben dem Menschen, die Schlachten austrägt, in denen sich ähnlich große Gruppen von Tieren attackieren und bis aufs Letzte bekämpfen, bis zum Tod.

Zehn Prozent der erwachsenen Zebramangusten werden durch Artgenossen getötet. Sogar 20 Prozent der Jungtiere. Manche Anthropologen gehen davon aus, dass der Mensch vor Tausenden von Jahren, als er noch als Jäger und Sammler lebte, ähnlich gewalttätig war. Doch keine moderne Gesellschaft kommt an dieses Gewaltniveau heran. Wenn man für die Zebramangusten auf Mweya eine Mordrate errechnen würde, wäre sie viermal höher als die im mexikanischen Tijuana, der gefährlichsten Stadt der Welt. 

Besonders gefährdet bei den Kämpfen sind die Jungtiere der Mangusten. Ein Fünftel von ihnen wird durch Artgenossen getötet.

Der Mensch kann für sich nur deshalb behaupten, dennoch das kriegerischste Säugetier der Welt zu sein, weil wir zu unglaublichen Extremen fähig sind. Wenn unsere Kriege einmal ausbrechen, werden sie oft mit einer Brutalität und Tödlichkeit ausgetragen, die sich in der Natur sonst nur bei einigen Insektenarten und in der Welt der Mikroben wiederfinden lässt. Keine andere Säugetierart kennt Konflikte, in denen Tausende Mitglieder einer Spezies innerhalb weniger Stunden sterben.   

Die Zebramangusten sind die Säugetiere, die vielleicht am dichtesten heranreichen, an uns und unsere schwer zu erklärenden Grausamkeitsorgien. Michael Cant erforscht die Tiere seit fast 30 Jahren. Er hat Dinge herausgefunden, die erstaunliche Parallelen zum Menschen haben. Es geht dabei um Altruismus und Egoismus, um Nähe und Fremdheit, um Zärtlichkeit und Brutalität, um das Gute und das Schlechte und die Frage, ob sie sich trennen lassen.

“Unter dem Schönen lauert oft etwas Grausames”

3.

Am Abend deckt eine lichterlose Dunkelheit auf Mweya alles zu. Die einzigen Geräusche sind das Summen der Fliegen und Moskitos und die merkwürdigen Schreie der Nilpferde, die klingen, als würde da gerade etwas sehr Großes erdolcht.  

Michael Cant wuchs weit weg von hier auf, in einem kleinen Ort namens Stamford Bridge, acht Kilometer außerhalb von York im Norden Englands. Sein Vater war ein Werkzeugmacher, seine Mutter Sekretärin. Er erzählt, dass die Jungs in seinem Viertel immer zu ihm nach Hause gekommen seien, wegen seiner Mutter, die weniger streng gewesen sei als andere Mütter. Seine Mutter, die heute 89 Jahre alt ist, sei immer eine wissbegierige Frau gewesen, eine Autodidaktin, die viel gelesen habe. Von ihr habe er seinen Wissenshunger, sagt Cant. Er fühlte sich früh hingezogen zum Innenleben von Menschen und Tieren, er war fasziniert von dieser unsichtbaren Welt. Also studierte er Biologie. 

Am Anfang seines Studiums reiste er mit anderen Studenten auf die schottische Insel Great Cumbrae, wo er den undankbaren Auftrag bekam, Dungfliegen auf Kuhfladen zu beobachten. “Ich hatte keine Lust. Aber als ich dasaß, war das wie eine Erleuchtung. Die schillernden, gelben Fliegen, all das Chaos, der Wettbewerb, die Männchen, die um einen Platz auf den Rücken der Weibchen kämpften, sich wegschubsten, um sich paaren zu können und dabei manchmal die Weibchen erdrückten. In dem Moment wusste ich, dass ich Wissenschaftler werden wollte.”  

Michael Cant kam 1995 das erste Mal auf die Halbinsel Mweya und ist seither fast jedes Jahr zurückgekehrt.

Cant brauchte nur noch ein Tier. Ein anschauliches Objekt, anhand dessen er die großen Mechanismen der Evolutionsbiologie studieren könnte. Ein Professor schlug ihm die Zebramanguste vor.

Das, was Wissenschaftler damals, Mitte der Neunzigerjahre über das Tier wussten, klang faszinierend und etwas bizarr. Cants Vorgänger hatten beobachtet, dass Zebramangusten in großen Gruppen leben, die manchmal bis zu 35 Tiere und mehr umfassen. Dass sie nachts in unterirdischen Höhlen schlafen, oft in verlassenen Termitenbauten, die sie alle paar Tage wechseln. Und dass sie außerordentlich fürsorglich miteinander umgehen. Ein amerikanischer Wissenschaftler hat beobachtet, wie eine Gruppe Zebramangusten einem Adler bis auf einen drei Meter hohen Ast nachgestiegen war, um ein Mangusten-Männchen zu retten, das der Adler sich gepackt hatte. Der Adler ließ seine Beute fallen und suchte das Weite. 

Als Cant in den Neunzigerjahren das erste Mal im Nationalpark forschte, war es eine idyllische, aber unsichere Gegend. “Die Natur war so voller Leben. All die großen Tiere. Die Gerüche. Der Lärm der Insekten. Das war alles so intensiv”, sagt Cant. Aber es war auch ein fragiler Zustand. Zwischendurch bekämpfte die ugandische Armee eine Rebellengruppe mit schweren Waffen, kaum zehn Kilometer von Mweya entfernt. Militärhelikopter landeten in Cants Forschungsgebiet. Er erzählt, dass damals Teile des Nationalparks abgebrannt worden seien, um den Angreifern, die aus dem Kongo gekommen waren, keinen Rückzugsraum zu bieten. 

Cant aber blieb. Jeden Morgen ging er los und suchte die Mangusten-Gruppen, zusammen mit seinem ugandischen Feldassistenten Francis Mwanguhya, der hier jede Pflanze, jede Tierart kennt. Die zwei Männer wanderten viel herum, etwas, das auf Mweya stabile Nerven verlangt, wo hinter jeder Ecke ein Leopard warten könnte oder ein schlecht gelaunter Elefantenbulle. 

Sie versuchten, die Mangusten an ihre Anwesenheit zu gewöhnen. Sie brachten kleine Köder mit, etwas Hundefutter. Sie machten merkwürdige Geräusche, die signalisieren sollten, dass sie keine Gefahr darstellten: Sie muhten wie Kühe. Oder riefen, noch irrer: “KROCK-KROCK-KROCK”. Den Trick hatte Cant sich von Affenforschern abgeschaut. “Aus irgendeinem Grund entspannt es die Mangusten”, sagt er. “Aber man kommt sich vor wie der größte Vollpfosten.” 

Ortungshilfe: Die Mangustengruppen tragen Halsbänder, sodass Cants Mitarbeiter sie mit einer Radioantenne finden können.

Irgendwann hörten die Tiere auf wegzurennen. Die Forscher konnten jetzt mitten zwischen ihnen sitzen, ohne von ihnen beachtet zu werden. Sie beobachteten ihr Zusammenleben, sie notierten Geburten, Tode, was sie aßen. Sie wogen und maßen sie. Cant wurde nach und nach klar, dass die Zebramanguste ein noch viel bizarreres Tier ist, als er gedacht hatte.

Der Krieg hat Evolutionsbiologen lange Kopfzerbrechen bereitet. Wie entsteht etwas, das desaströs für alle Beteiligten ist? Etwas, bei dem beide Seiten oft mehr verlieren, als sie durch Gewalt je gewinnen könnten? 

Etwas war Forschern schon früh aufgefallen: Die Spezies, die Krieg führen, gehören zu den sozialsten Tieren, die es gibt – Ameisen, Bienen, Affen, Menschen. Angriffe auf andere Tiere bergen immer die Gefahr, verletzt oder getötet zu werden. Es braucht einen außergewöhnlich starken Zusammenhalt in einer Tiergruppe, um gemeinsam etwas so Riskantes zu tun. Nur Tiere, die sich stark aneinander binden, sind dazu in der Lage.   

Michael Cants erste, große Entdeckung war, dass die Zebramangusten schon bei der Geburt zu einer Einheit verschmelzen. Irgendwann war ihm aufgefallen, dass die Weibchen einer Gruppe zur selben Zeit schwanger wurden und dann am gleichen Abend hochschwanger im Bau verschwanden. Am nächsten Tag kamen sie alle dünn, ohne dicken Bauch nach draußen. Das passierte wieder und wieder. 

Eines Tages wurde Cant klar: Die Zebramangusten synchronisierten ihre Geburten. Sie gebaren immer in der gleichen Nacht, oft innerhalb weniger Stunden. “Manchmal kamen bis zu 30 Welpen gleichzeitig auf die Welt”, sagt Cant. “Kein anderes Säugetier kann so synchron gebären.” Die Frage war: Warum machen sie das? 

Cant hatte bald einen Verdacht. Als die Tiere nach einigen Wochen mit dem Nachwuchs aus dem Bau kamen, schien keine der Mangusten mehr zu wissen, wer die Eltern waren. Die Jungtiere hatten zwar feste Begleiter, die sich verhielten wie Eltern. Sie zeigten ihnen, was sie essen konnten, wie sie Käfer in der Erde fanden, wie sie Eidechsen erlegten und welche Geräusche Gefahr ankündigten. Sie begleiteten die Tiere ihr ganzes Leben lang. Aber Cant stellte fest, dass die Begleiter nicht die biologischen Eltern waren, sondern zufällig ausgewählte Tiere aus der Gruppe, oft keine nahen Verwandten. Die Tiere verschleierten durch die Synchrongeburten, wer die Eltern waren. 

Das ist für Evolutionsbiologen zunächst einmal ziemlich verwirrend. Sie sehen die Natur durch eine Brille, in der das Wissen, wer mit wem und wie eng verwandt ist, alles bestimmt. Jedes Lebewesen versucht, die eigenen Gene weiterzureichen, in die nächste Generation. Die meisten Tiere und Pflanzen versuchen dabei, nicht nur selbst zu überleben. Sie wenden oft viel Energie auf, um auch engen Verwandten zu helfen, mit denen sie viele Gene teilen. Je enger die Beziehung, desto größer die Opfer, die sie auf sich nehmen. Der britische Evolutionsbiologe J. B. S. Haldane hat deshalb einmal den Witz gemacht, dass er sein Leben jederzeit gerne für “zwei Brüder oder acht Cousins” hergeben würde. In den exakten, mathematischen Berechnungen der Evolutionsbiologen wäre das nämlich der Punkt, an dem ein solches Opfer anfangen würde, sinnvoll zu erscheinen.  

Dafür müssen die Tiere allerdings wissen, wer ihre Brüder und Schwestern, Cousins und Cousinen sind. 

Die Zebramangusten haben keine Ahnung. Sie wissen nur, dass irgendwo in ihrer Gruppe ihre Eltern, Tanten, Onkel, Brüder und Schwestern leben. Also richtet sich ihre ganze Energie darauf, der ganzen Gruppe zu helfen, nicht nur den Tieren, mit denen sie direkt verwandt sind. Cant nennt das, angelehnt an den amerikanischen Philosophen John Rawls, den “Schleier des Nichtwissens”, der sich über ihre Verwandtschaftsbeziehungen legt. Hinter diesem Schleier wird das Individuum unwichtig. Es zählt nur noch die Gruppe.

Cant hat herausgefunden, dass die Tiere einen erstaunlichen Sinn für Gerechtigkeit haben. Einmal fütterte er einen Teil der schwangeren Tiere. Die eine Hälfte des Nachwuchses wurde dadurch größer und dicker. Die Tiere nahmen dieses Ungleichgewicht sofort wahr. Nach der Geburt begann die ganze Gruppe, den dünneren, schwächeren Nachwuchs zusätzlich zu füttern, so lange, bis der Unterschied verschwunden war.   

Im Schutz der Gruppe: Große Mangusten-Gangs können es mit Raubtieren aufnehmen, gegen die die Tiere allein keine Chance hätten. Pythonschlangen zum Beispiel.

Wenn man etwas Zeit mit den Tieren verbringt, sieht man viel Harmonie, enge Verbundenheit. Die älteren Mangusten bieten den Jüngeren Käfer an, die sie gefangen haben. Sie putzen ihnen die Tausendfüßler, die sie aus der Erde graben, bevor sie sie weiterreichen. Während sie im Boden nach Essen graben, fiepsen sie in ihrer Pieps-Sprache, die manchmal klingt wie ein Vogel, manchmal wie ein Affe und manchmal wie ein Luftballon, aus dem langsam die Luft gelassen wird. Sie haben eine krude Grammatik, in der sie sich die ganze Zeit mitteilen, was sie gerade machen. Buddeln zum Beispiel. In den Pausen am Mittag, wenn es zu heiß wird, um nach Essen zu suchen, kuscheln sie sich im Schatten eng aneinander und putzen sich. Die einzige Spur von Gewalt sind die Ohren eines Männchens: Sie fehlen auf beiden Seiten. Sie wurden dem Tier von einer anderen Gruppe abgebissen.

Irgendwann in den ersten Tagen sagt Cant: “Immer wenn man etwas besonders Schönes in der Natur sieht, dann lauert meistens etwas Grausames oder Furchtbares darunter.” Die Mangusten sind dafür vielleicht das beste Beispiel.

Die Harmonie trügt. Der Egoismus der Tiere verschwindet nicht einfach. Er lebt weiter. Er wird nur unterdrückt. Und hin und wieder entlädt er sich in schockierenden Gewaltorgien. Cant hat das auf ziemlich drastische Weise herausgefunden, als er anfing, Experimente mit Verhütungsmitteln zu machen. In einem Versuch verhinderte er mit Medikamenten, dass die älteren, dominanten Weibchen einer Gruppe Nachwuchs bekamen. Die Jüngeren wurden weiterhin schwanger. Die älteren wussten nun, dass von ihnen keine Welpen im Wurf waren. Als der Nachwuchs kam, brachten die älteren Weibchen sofort alle Neugeborenen um. Als Cants Mitarbeiter die Gruppe besuchten, fanden sie überall die Leichen der Jungtiere herumliegen. “Wir hatten nicht erwartet, dass sie sofort zum Kindsmord übergehen”, sagt Cant. Das Experiment musste er vorzeitig abbrechen. Die Folgen waren so schädlich für die Tiere, dass er damit nicht länger herumspielen wollte. 

Cant hatte etwas Wichtiges über die Tiere verstanden. Die Synchrongeburten sind wie ein Kleber, der die Zebramangusten zusammenhält. Es ist das Mittel, um ihre Eigensucht kleinzuhalten. Die Zebramangusten unterdrücken so die Konflikte innerhalb der Gruppe. Und schaffen die Basis dafür, dass sich ihre Aggressivität nach außen richten kann, auf andere Zebramangusten; auf jedes fremde Tier, das ihnen bei ihren Streifzügen begegnet. Sie binden sich fest aneinander und gehen so den ersten Schritt in Richtung Krieg.

“Kleine, schwache Gruppen werden aufgerieben”

4.

Niemand, der eine Schlacht zwischen zwei Gruppen von Mangusten gesehen hat, vergisst das so schnell wieder. 

Wenn eine Gruppe eine andere sieht, stellen sich alle Tiere auf die Hinterbeine und beginnen zu schreien. Laut zu schreien. Es klingt ein bisschen so, als würde jemand eine Gruppe Wellensittiche erwürgen. 

Dann reiben die Tiere sich aneinander. Sie übertragen ihren Geruch, eine Art Salbung vor dem Gefecht. Dann bewegen sie sich aufeinander zu. Sie attackieren einander, dicht an dicht, so eng aneinandergepresst, dass man an zwei Sardinenbüchsen denken muss, die aneinanderstoßen. In dem Fellknäuel steigen die Tiere frenetisch übereinander. Die einen drängen nach vorne, um zuzubeißen. Die anderen zurück, weil sie vorne zu viel gesehen haben. Sie schnappen blitzschnell zu, mit kleinen Mäulern und scharfen Zähnen. Sie kratzen sich mit ihren Krallen. Sie versuchen den Gegner auf den Rücken zu drücken, um ihn in den weichen Bauch zu beißen. 

Das Merkwürdigste, Albtraumhafteste daran ist, wie organisiert das Chaos aussieht: die geschlossenen Reihen, die koordinierten Flankenangriffe, das Vortasten und Zurückweichen.

Die Kämpfe können bis zu einer Stunde und mehr dauern. Mal hat eine Seite die Überhand, dann die andere. “Ich habe nie zuvor oder danach etwas Vergleichbares gesehen”, sagt Cant. “Die Tiere verlieren jede Zurückhaltung. Sie vergessen sich selbst und uns. Selbst scheue Mangustengruppen, die sonst wegrennen, wenn wir kommen, ignorieren uns. Wir können nah herangehen. Es interessiert sie nicht.”

Es gibt ein kleines Dorf in Mweya und manchmal, wenn die Mangustengruppe, die gleich hinter der Mülldeponie lebt, in einen Kampf gerät, schauen die Bewohner zu, wie beim Fußball. 

Eine Zebramanguste wird bei einem Kampf von ihrer Gruppe abgeschnitten. Mitglieder ihrer Gruppe kommen schließlich zur Hilfe und retten das Männchen..

Wieso gehen die Zebramangusten dem Krieg nicht aus dem Weg, wie andere Tiere? 

In der Logik der Evolution haben egoistische, feige Tiere einen Vorteil: Wer sich im Kampf in der letzten Reihe herumdrückt, stirbt nicht. Wer vor dem Kampf flieht, vermeidet die Gefahr. Drückeberger leben länger. 

Genau aus diesem Grund ist Gewalt im Tierreich meist keine heroische Angelegenheit. Schimpansen zum Beispiel greifen ihre Artgenossen nur aus dem Hinterhalt an und nur, wenn sie in der Überzahl sind. Da stürzen sich dann acht, neun Schimpansen auf ein einziges Opfer. Schimpansenschlachten zwischen gleich großen Gruppen gibt es nicht. Das Risiko, verletzt oder getötet zu werden, wäre den Affen zu groß. Feiger Mord ist die Norm in der Natur. 

In den Videos der Zebramangustenkämpfe aber sieht man Dinge, die ein Tier eigentlich nicht tun sollte: Man sieht Mangusten, die allein nach vorne preschen, mitten in die feindliche Gruppe hinein, um ein Tier der eigenen Gruppe zu retten, das am Boden liegt. Man sieht Männchen, die ihre Position in der Schlachtlinie halten, obwohl sie hoffnungslos in der Unterzahl sind. Man sieht verletzte Tiere, die blutend weiterkämpfen. 

Bei den Zebramangusten ist der Wettbewerb zwischen den Gruppen gnadenlos, viel gnadenloser als bei den meisten anderen Wirbeltieren: “Kleine, schwache Mangustengruppen werden in den ständigen Kämpfen schnell aufgerieben”, sagt Cant. Gruppen mit weniger als zehn Tieren werden oft bis zur totalen Auslöschung wieder und wieder attackiert. “Ihre Gegner suchen gezielt nach dem Nachwuchs im Bau und beißen ihn tot.” Die Aussichten für ein Tier allein seien noch schlechter. “Außerhalb ihrer Gruppe können die Tiere kaum überleben.” In diesem Umfeld allgegenwärtiger Gewalt besteht der einzige Weg darin, sich aneinander zu binden. Nur wenn sie zu radikalen Altruisten werden, die ihr Leben füreinander geben, haben sie eine Chance.  

Wahrscheinlich entstanden so beide Dinge gleichzeitig: der Krieg der Mangusten und ihre Uneigennützigkeit. Über Millionen Jahre hinweg, durch immer neue Feedback-Loops, haben sich die Gewalttätigkeit der Tiere und ihr Altruismus zu immer neuen Extremen hochgeschaukelt, wie Wind und Wasser zu einem Taifun. Das Schöne und das Grausame gehören zusammen. 

Aber gilt das auch für den Menschen?

In der Mittagshitze ruhen die Mangustengruppen sich im Gras aus. Die meisten Kämpfe passieren morgens oder am späten Nachmittag.

5.

Dominic Ongwen, der letzte Kriegsverbrecher, der in Den Haag vor dem Internationalen Strafgerichtshof rechtskräftig verurteilt wurde, hat ein extremes, kaum vorstellbares Leben gelebt. Als kleiner Junge – er soll acht oder neun Jahre alt gewesen sein – wurde er aus einem kleinen Dorf im Norden Ugandas entführt. Seine Eltern wurden ermordet. Die Rebellen, die sich die Lord’s Resistance Army, kurz LRA, nannten, machten einen Kindersoldaten aus ihm. Ongwen kämpfte 27 Jahre lang mit ihnen. Er wurde einer ihrer ranghöchsten Offiziere und einer ihrer gefürchtetsten Kämpfer.

Vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wurde er des Mordes überführt, der Entführung, der Folter und noch einer ganzen Reihe anderer Delikte. Er attackierte Flüchtlingslager; er vergewaltigte Frauen und zwang sie dazu, ihm Kinder zu gebären; er raubte Flüchtlingen ihr Essen; er erniedrigte Menschen, um sie sich gefügig zu machen.

Vor Gericht erinnerten sich Zeugen, dass Ongwen keine Furcht zu kennen schien. Dass er gelöst, fast euphorisch wirkte, wenn er in den Kampf zog. Dass er den Tod fast zu suchen schien.

Aber während seines Verfahrens kam auch eine andere Seite zutage: Immer wieder fingen Wegbegleiter ungefragt an, von dem Angeklagten zu schwärmen. Frauen erinnerten sich, dass er während langer Märsche ihre Lasten getragen hatte. Dass er ihnen ihre Babys abgenommen hatte, damit sie leichter gehen konnten. Er alberte mit den Kindersoldaten herum, erzählte ihnen Witze, um sie aufzuheitern. Er sprach sich mit seinen Soldaten ab und verweigerte Befehle, die er für selbstmörderisch hielt. Mehrere Entführungsopfer der LRA berichteten, dass er ihr Leben gerettet habe. Andere erklärten offen, dass sie ihn gemocht, ja geliebt hatten. 

Vom Kindersoldaten zum Kriegsverbrecher: Dominic Ongwen, bei einem seiner ersten Auftritte im Gerichtssaal in Den Haag, im Dezember 2016

Man könnte meinen, dass Dominic Ongwen eine Ausnahme ist. Jemand, der außergewöhnlich war in den Gegensätzen, die er vereinte. Selbst seine Anwälte schienen das zu glauben. Sie behaupteten im Verfahren, dass er zwei getrennte Persönlichkeiten habe, eine Gute und eine Schlechte. Dabei ist Ongwens Fall gar nicht so ungewöhnlich.

2016 veröffentlichte ein Team internationaler Forscher die Ergebnisse einer großen Untersuchung aus 42 Ländern, die der Frage nachgegangen war, ob Menschen durch Krieg kooperativer und altruistischer werden. Die Autoren schienen selbst überrascht zu sein, wie eindeutig das Ergebnis war. In so unterschiedlichen Ländern wie Sierra Leone, Nepal, Israel und Georgien engagierten sich Menschen mit Kriegserfahrungen nach dem Ende des Konfliktes öfter sozial als jene, die verschont geblieben waren. Sie übernahmen eher Verantwortung in ihrem Dorf, ihrem Viertel, ihrer Stadt. Sie spendeten eher Geld an Bedürftige. Sie waren oft selbstloser und weniger egoistisch. Es schien unwichtig zu sein, ob jemand Täter oder Opfer gewesen war. Die Gewalterfahrung hatte sie alle verändert. 

Auch Menschen macht der Krieg also uneigennütziger. Auch bei uns haben im Krieg jene Gruppen Vorteile, die mehr Altruisten in den eigenen Reihen haben, Menschen, die sich uneigennützig in den Dienst der Gruppe stellen. Auch bei uns gibt es eine Verbindung zwischen Gruppengewalt und Selbstlosigkeit. Die Fähigkeit, uns eng an andere zu binden, bis zu dem Punkt, wo unsere Identitäten miteinander verschmelzen, ist eine unserer großen Stärken. Und es ist die Grundlage aller organisierten Gewalt. Aber anders als bei den Zebramangusten macht der enge Zusammenhalt untereinander den Krieg beim Menschen nicht unvermeidbar.  

Am zweiten Abend in Mweya sagt es Michael Cant so: “Die Mangusten sind ein bisschen wie wir.” Wir seien ein sehr soziales Tier, wie sie. Wir können in großen Gruppen leben. Und deshalb können wir uns auch in großen Gruppen gegenseitig angreifen. Aber es gebe einen großen Unterschied: “Die Dynamiken werden bei uns durch das Prisma unseres Bewusstseins gebrochen.” 

Was Michael Cant meint: Wir können uns selbst verstehen. Wir empfinden Abscheu und Ekel, wenn wir mit der menschlichen Grausamkeit konfrontiert werden, etwas, das wohl keine Manguste je spüren würde. Und wir können uns ändern. 

Der Krieg ist für den Menschen kein innerer Zwang, sondern eine Option. Wir können anders als die Zebramanguste lange Zeit in Frieden miteinander leben, manchmal über mehrere Generationen hinweg. Wir binden uns nicht blind an die Gruppe, in der wir geboren werden. Wir gehen nicht jedem Fremden an die Gurgel, dem wir begegnen. 

Selbst wenn der Mensch sich bekriegt, hört er damit oft so plötzlich auf, wie er angefangen hat. In Norduganda zum Beispiel dauerte der Bürgerkrieg 19 Jahre, dann hörte er 2005 sehr schnell auf, mit der Vertreibung der LRA in den Kongo und dem Beginn von Friedensverhandlungen. Seit fast 18 Jahren herrscht nun Frieden dort. 

Ein Kreuz erinnert an das Massaker im Flüchtlingslager von Lukodi im Norden Ugandas, das Dominic Ongwens Truppen verübt haben. Ongwen wurde dafür in Den Haag verurteilt.

Es ist auch etwas, das im Gerichtsverfahren gegen Dominic Ongwen immer wieder auftauchte: die Idee, dass selbst der schlimmste Kriegsverbrecher ein anderer hätte sein können. Dass er unter anderen Umständen, in einer friedlichen Gesellschaft, ein unauffälliger, gutmütiger Mann geblieben wäre. 

Laurent Lehmann, ein evolutionärer Biologe, der aufwendige mathematische Modelle baut, um genetische Vererbung besser zu verstehen, und der mit Cant befreundet ist, sagt: “Nichts in unserer Biologie zwingt uns dazu, uns jede Generation aufs Neue anzugreifen. Es gibt keine Gene, die Krieg unvermeidbar machen.” Wir seien viel zu flexibel, viel zu anpassungsfähig dafür. 

Etwas treibt uns dennoch, wieder und wieder, in gewalttätige Konflikte miteinander. Es gibt eine letzte, merkwürdige Gemeinsamkeit, die wir mit den Zebramangusten teilen. Und sie erklärt vielleicht mehr als unsere Gene, wieso es so schwer ist, für den Menschen langfristig und überall in Frieden zu leben.

6.

Am Eingang von Cants Labor liegt ein Antilopenschädel. Das Labor liegt in einem der flachen, schmucklosen Gebäude, die die Briten hier gebaut haben, als sie noch Kolonialmacht in Uganda waren. Drinnen riecht es nach totem Fleisch und Zahnarztpraxis. Es türmen sich Boxen mit Spritzen, Gefäßen für DNA-Proben, in der Ecke steht ein großer Haufen leerer Flaschen mit dem Betäubungsmittel Isofluran. 

Robert Businge, einer der erfahrensten Mitarbeiter von Michael Cant, nimmt eine Manguste aus dem Käfig, packt sie am Nacken und hält ihr Gesicht in einen Schlauch, aus dem das Betäubungsgas kommt. Er hat das Tier zuvor draußen vor dem Dorf gefangen, in einen Käfig gestopft und ist dann mit offenen Türen davongebraust, während der Rest der Mangustengruppe panisch fiepsend hinter dem Auto hergerannt ist. 

Die Zebramanguste zuckt noch kurz, dann liegt sie da wie tot. Es ist ein junges Männchen, 23,9 Zentimeter lang, 344 Gramm schwer, sechs Zecken im Fell. Busenge notiert all das gewissenhaft. Er war mal Automechaniker. Jetzt macht er die delikatesten Aufgaben im Labor. Er ist der Einzige hier, der es auch noch bei den kleinsten Jungtieren schafft, Blut abzunehmen, aus einer Vene am Hals. 

Ohne Bewusstsein: Eine Manguste wird mit Gas betäubt, um eine Blutprobe zu entnehmen.

Mit einer Nagelschere schneidet er dann noch ein winziges Stück Knorpel vom Schwanz ab. Ein kleiner Blutstropfen landet auf der Unterlage. Die Gewebeprobe ist für einen DNA-Test, der unter anderem dazu dient, zu sehen, wer Mutter und Vater dieses jungen Männchens sind. 

Cant hat über die Jahre einen Schatz an genetischen Daten angesammelt, der neun Mangustengenerationen zurückreicht. Von mehr als 5.000 Tieren weiß er, wo sie geboren wurden, wie sie gestorben sind, und eine ganze Menge darüber, was dazwischen passiert ist. Die DNA-Datenbank hat Michael Cant die letzte, große Überraschung beschert. 

Er stellte fest, dass fast 20 Prozent der Welpen Väter hatten, die nicht aus ihrer Gruppe stammten. Sie kamen von außerhalb, von benachbarten Gruppen. Wie aber paarten die Tiere sich, wenn alle Interaktionen zwischen Gruppen in Gewalt enden? 

Irgendwann bemerkte Cant, dass die Weibchen sich während der Kämpfe wegschlichen, um sich mit Männchen aus der verfeindeten Gruppe zu paaren. “Den Rest der Zeit werden sie von Männchen bewacht, die ihnen auf Schritt und Tritt folgen”, sagt Cant. “Das Chaos ist die einzige Chance, die sie haben.” Er besitzt ein Video, in dem zwei Mangusten mitten zwischen den Schlachtreihen Sex hatten, auf die dreistest mögliche Weise.

Als er die Daten auswertete, stellte er außerdem fest, dass die Zahl der Kämpfe immer dann zunahm, wenn die Weibchen einer Gruppe fruchtbar waren. Seine Mitarbeiter hatten dabei immer wieder beobachtet, wie Weibchen in dieser Zeit ihre Gruppen weit in das Territorium einer verfeindeten Gruppe lotsten. Manchmal schienen sie aktiv nach feindlichen Tieren zu suchen. 

Nicht jeder Mangustenkrieg beginnt so. Manchmal scheinen die Gruppen auch zufällig ineinanderzulaufen, insbesondere wenn es lange nicht geregnet hat und sie weite Strecken zurücklegen müssen auf der Suche nach Essen. Aber etwas mehr als ein Viertel der Kämpfe scheinen die Weibchen anzuzetteln.

Und je öfter die Weibchen ihre Gruppe in Kämpfe führten, desto mehr Nachwuchs hatten sie. Die Weibchen, so erklärt es Cant, ziehen aus den Schlachten nur Vorteile: Sie riskieren auch ihr Leben nicht. Sie greifen nicht ein, während die Männchen sich zerfleischen.  

“Es hat fast zehn Jahre gedauert, die Puzzleteile zusammenzusetzen”, sagt Cant. Am Ende stand eine ziemlich düstere Erkenntnis: Die eine Hälfte der Mangusten führt die andere Hälfte in ihr Verderben, für Sex. “Die Weibchen provozieren Kämpfe, um sich mit Männchen aus anderen Gruppen zu paaren”, sagt Cant.

Mit langem Atem: Im kleinen Labor in Mweya hat Cants Team die Daten von neun Generationen von Mangusten gesammelt.

Das Verhalten der Zebramangusten hat etwas so Außerweltliches, dass man manchmal das Gefühl hat, es mit der Logik eines Fiebertraums zu tun zu haben. Aber wenn man etwas abstrahiert, wenn man kurz Geschlecht und Sex vergisst, ist die Dynamik gar nicht mehr so fremd. Cant nennt es das Prinzip der “ausbeuterischen Führung”. 

Krieg werde immer dort besonders zerstörerisch, wo es Anführer gibt, die viel zu gewinnen und wenig zu befürchten haben. “Wenn die Anführer sich von den Folgen der Kämpfe isolieren können, haben sie überhaupt keinen Grund, Frieden zu suchen”, sagt Cant. “Sie haben ja nur Vorteile davon. Je ungleicher das Leid des Krieges verteilt ist, desto destruktiver werden die Kämpfe.” 

Das gelte eben nicht nur für die Zebramanguste, sondern auch für den Menschen. Krieg wird befeuert durch einen kleinen Rest von Egoismus, durch etwas Selbstsucht, etwas Gier, in sehr selbstlosen, sehr sozialen Tieren. Durch einen geringfügigen Makel.

“Wenn Kooperation gelingt, ist sie ein unglaublich schöner Tanz”

7.

Der Ankläger, der den Prozess gegen Dominic Ongwen geführt hat, ist, wie Michael Cant, Engländer. Er ist acht Jahre älter. Er hat wie Cant in Cambridge studiert, Jura allerdings, nicht Biologie. Benjamin Gumpert hat diesem Prozess mehrere Jahre seines Lebens gewidmet. Am Ende verlangte er 20 Jahre Gefängnis. Die Richter legten noch fünf Jahre drauf und verurteilten Ongwen zu 25 Jahren. Ongwen wird als alter Mann aus dem Gefängnis entlassen werden. 

Auch Gumpert erzählt von Ongwen mit viel Respekt, viel Mitgefühl, was etwas merkwürdig ist, angesichts der Rolle, die er gespielt hat. Gumpert hält Ongwen für einen intelligenten Mann, der sich in einer ausweglosen Lage an sein Umfeld angepasst hat, um zu überleben. “Ich kann nicht garantieren, dass ich mich in seiner Lage, als Kind in einem Umfeld voller Gewalt, nicht genauso entschieden hätte”, sagt Gumpert. 

Ongwens folgenreichster Fehler sei erst später passiert, als er längst erwachsen war. “Er ist zu lange geblieben. Er hat viele Möglichkeiten verstreichen lassen, den Kampf aufzugeben. Er hat sich verführen lassen von der Macht, die die LRA ihm gab. Er genoss das Essen, er hat es gemocht, dass sie ihm Frauen brachten. Er war gerne derjenige, dem die anderen salutieren mussten. Er war zu gerne ein big cheese” – ein hohes Tier. 

Während Ongwens Verfahren bekam man eine Ahnung für die Verführungen, die der Krieg den Anführern bietet, selbst in einer sehr kleinen Rebellengruppe im ugandischen Busch.

Man sah allerdings auch, wie ein Korrektiv aussehen könnte: Ongwen hat in Den Haag einen jahrelangen, zermürbenden Gerichtsprozess durchmachen müssen. Er saß da, während Zeuge um Zeuge ihn mit seiner Schuld konfrontierten. Er hat jetzt schon acht Jahre in einem Gefängnis fern der Heimat verbracht. Und er hat noch eine lange Zeit der Einsamkeit vor sich.

Kann es sein, dass irgendwann allein der Gedanke an eine Gefängniszelle in den Dünen von Scheveningen, jenem niederländischen Vorort direkt an der Nordsee, in dem die Kriegsverbrecher während ihres Prozesses eingesperrt werden, die Kalkulation der Mächtigen verschiebt? Können wir es schaffen, jene mitleiden zu lassen, welche die Konflikte aus ihren eigenen, selbstsüchtigen Motiven beginnen? Können wir die Attraktivität von Krieg zerstören, indem wir die Profiteure um ihre Freiheit bringen? Vielleicht. Aber im Moment sind wir davon weit entfernt. 

Das Schlachtfeld: In der Regenzeit ziehen fast jeden Abend Gewitter über das Naturschutzgebiet am Ufer des Eduardsees.

“Das System”, sagt Gumpert, “ist schandhaft langsam.” Die Urteile seien umständlich, zu lang. In einem Fall wie Ongwens habe es mehr als 1.000 Seiten. “Das habe nicht einmal ich vollständig gelesen.” In den etwas mehr als 20 Jahren, in denen es den Internationalen Strafgerichtshof gibt, wurden in Den Haag gerade einmal vier Kriegsverbrecher rechtskräftig verurteilt. Im Schnitt: alle fünf Jahre einer.   

Wenn man Gumpert nach den großen Ambitionen des Gerichts fragt, nach den Slogans, in denen es verspricht, die Schuldfreiheit für die schlimmsten Verbrechen auf der ganzen Welt beenden, dann schüttelt er nur den Kopf. “Ich stehe voll hinter den Ambitionen des Gerichts. Und wenig ist besser als nichts. Aber leider ist das Einzige, was dieses Gericht derzeit leisten kann, einigen wenigen Menschen in Ländern mit überforderten Justizsystemen ein Minimum an Gerechtigkeit zu bieten.” 

Dann redet er über das Budget des Internationalen Strafgerichtshofs, das 150 Millionen Euro beträgt. “Wissen Sie, das ist eigentlich gut angelegtes Geld, die Berliner Feuerwehr gibt sicher jedes Jahr mehr aus.” Nach dem Gespräch guckt man es nach: Die Berliner Feuerwehr gibt im Jahr mehr als dreimal so viel aus. Das Den Haager Gericht ist eine Ameise, die man beauftragt hat, das Matterhorn abzutragen. 

Und dann sind da noch die verkrusteten, ungerechten Strukturen des internationalen Systems, der Vereinten Nationen zum Beispiel. Theoretisch könnte der UN-Sicherheitsrat das Gericht in Den Haag zum Beispiel beauftragen, Ermittlungen gegen russische Offizielle einzuleiten, wegen Verbrechen in der Ukraine. Aber weil Russland ein Vetorecht hat, wird dies nie passieren. Das Staatensystem schützt die Mächtigsten, egal wie eindeutig sie gegen internationales Recht verstoßen. 

Es ist gar nicht so leicht, sich ein System vorzustellen, in dem jene Anführer, die Kriege beginnen, zuverlässig bestraft werden. Aber genau darin liegt wohl unsere beste Hoffnung, um zu einer durchweg friedlichen Spezies zu werden. 

Es ist nicht mehr als das schwächste, kaum wahrnehmbare Glimmern am Horizont.

8.

Am Abend eines langen Tages sitzt Michael Cant am Rand der Graspiste von Mweya, auf der Pritsche eines Pick-up-Trucks, mit Blick auf den spiegelglatten Eduardsee, während hinter den Bergen des Kongo die Sonne untergeht, in dieser Urlandschaft, durch die unsere Vorfahren schon vor 200.000 Jahren zogen, ohne einen Gedanken an Evolutionsbiologie zu verschwenden. Im Halblicht ziehen schemenhaft Kaffernbüffel vorbei. Hin und wieder erhellen Blitze eines Gewitters, das von Süden, von Ruanda herüberzieht, die Landschaft.     

Manchmal hilft es, einen großen Schritt zurückzutreten. Sich das ganze Panorama anzugucken, vom ganz großen Anfang an. Evolutionsbiologen reden nicht gerne von Fortschritt. Die Evolution des Lebens auf der Erde verfolge kein Ziel, habe keine Stoßrichtung, keine Vorhersicht. Der amerikanische Biologe Stephen Jay Gould hat sie einmal mit dem Gang eines Betrunkenen verglichen, der mal hierhin, mal dorthin wandere, in jeden verfügbaren freien Raum. 

Cant aber erzählt, dass er daran nicht mehr glaube. Dass die Evolution sich zwar lange in winzigen Schritten bewege, nur um dann plötzlich etwas zu entdecken, dass alles revolutioniere, alles über den Haufen werfe. 

Am Anfang seiner Karriere riet ein Professor Cant, dass er ein konkretes Tier brauche, um über die großen Linien der Evolution nachzudenken. Genau daran hat er sich gehalten.

Mehrere Male ist das in der langen Geschichte des Lebens passiert. Mehrere Male haben sich Organismen, die unabhängig voneinander existierten, zu einer neuen Einheit zusammengetan. Jedes Mal bestand die Revolution darin, den Egoismus der Einzelteile zu überwinden, den Konflikt zwischen ihnen zu unterdrücken, um etwas Größeres, Neues zu schaffen. 

Vor vier Milliarden Jahren taten sich sich selbst replizierende Moleküle zusammen. Vor einer Milliarde Jahre begannen mehrzellige Organismen zu entstehen aus eben jenen Molekülen und bildeten die Basis für all das Leben, das wir mit bloßem Auge sehen können: All die Vögel, Insekten, Reptilien, das gesamte Spektrum von Blauwal bis Eintagsfliege. Und vor hundert Millionen Jahren begannen die ersten Insektenspezies damit, eine Form von Tiergesellschaft zu bilden. “Wenn Kooperation gelingt, ist sie ein ballettartiger, unglaublich schöner Tanz, den die Natur vollführt”, sagt Cant. 

Aber die Transformation sei nie abgeschlossen, sagt Cant. Es gibt immer Momente, in denen die uralten Egoismen der älteren, simpleren Lebensform durchbrechen. Bei der Entstehung eines menschlichen Embryos versuchen sich Gene gegenseitig auszuschalten. Zellen, die eigentlich nicht wachsen sollten, vermehren sich auf Kosten des restlichen Organismus unkontrolliert, was wir Krebs nennen.

Krieg ist aus diesem Blickwinkel der Restegoismus in Lebewesen, die es geschafft haben, ihre internen Konflikte so stark zu unterdrücken, dass sie sehr eng zusammenzuleben können. Aber die dabei den Konflikt nur nach außen verlagert haben. Ihre Aggressionen richten sich stattdessen vor allem auf Fremde, auf andere Gruppen. Sie leben noch nicht kooperativ genug zusammen, um Gewalt ganz hinter sich zu lassen.

“Es kann sein, dass wir irgendwann aufhören, Krieg gegeneinander zu führen, um einer übergeordneten Herausforderung zu begegnen, die uns alle bedroht”, sagt Cant. Die Alternative spricht er nicht aus: Oder wir werden uns womöglich irgendwann selbst vernichten. In irgendeinem Konflikt, bei dem eine Eskalationsspirale mit unseren destruktivsten Waffen außer Kontrolle gerät.

Gegenüber der Graspiste, auf der anderen Seite des Sees, leuchten nachts schwach die Lichter der Dörfer von Nordkivu, im Ostkongo, wo ein fast 20 Jahre langer Bürgerkrieg tobt, der immer weiterschwelt, ohne Lösung in Sicht. 

“Die einzelnen Pfade, welche die Evolution nimmt, können nicht vorhergesagt werden, weder an ihrem Anfang noch am Ende”, schreibt Edward O. Wilson, einer der großen Evolutionsbiologen der letzten 50 Jahre. Manchmal komme eine Spezies ganz dicht an den Rand einer revolutionären Veränderung und schaffe doch den letzten Schritt nicht. 

Etwa hundert Milliarden Lebewesen habe es gegeben, die unsere direkten Vorfahren waren. “Ohne es zu wissen, haben sie für uns gelebt und sind für uns gestorben”, schreibt Wilson. Sie waren “weder auserwählt noch besonders großartig. Sie hatten einfach Glück.”

Man sieht die Lichter, den See, die Schemen der Berge, in denen immer noch hin und wieder gekämpft wird, man hört etwas Großes, Schweres durch die Büsche am Hang streifen und hofft, dass uns das Glück nicht doch bald, allzu bald, ausgeht.

Text: Johannes Böhme
Fotografie: Esther
 Ruth Mbabazi
Videos: Banded Mongoose Project,
Johannes Böhme
Redigatur: Philipp Daum
, Philip Faigle
Dokumentation: Philipp Daum

Bildredaktion: Tina Ahrens, Andreas Prost
Videoredaktion: Max Boenke