Frankfurter Anthologie: Friederike Mayröckers „auf eine jüngst gestorbene Nachtigall“
Seit ihren Anfängen wird in der Lyrik der Toten gedacht, ob in antiken Grabinschriften, barocken Begräbnisgedichten oder in Kindertotenliedern von Friedrich Rückert und anderen. Als Heinrich Heine in einem Gedicht verkündete, „Nicht gedacht soll seiner werden“ (und den entsprechenden Namen tatsächlich nicht nannte), war diese Verweigerung des Gedenkens als poetische Höchststrafe gedacht. Und als Paul Celan in seiner Rede „Der Meridian“ mit einer berühmt gewordenen Formulierung sagte, seine Gedichte seien ihrer „Daten eingedenk“, war damit auch das Gedenken an die im Holocaust ermordeten Jüdinnen und Juden gemeint, unter ihnen seine Eltern.
Einen Höhepunkt dieser Tradition in der Gegenwart bildet das Werk der österreichischen Lyrikerin Friederike Mayröcker: Viele ihrer Gedichte sind Totenklagen oder Totenvergegenwärtigungen anderer Art. An erster Stelle steht dabei Friederike Mayröckers „Hand- und Herzgefährte“, der Lyriker Ernst Jandl, um den sie nach seinem Tod im Jahr 2000 in Form eines ergreifenden Requiems trauerte und den sie später geradezu ins Leben zurückschrieb, indem sie in Gedichten imaginäre Gespräche mit ihm führte. Aber auch anderer Autoren gedachte sie in Gedichten, des von ihr verehrten Friedrich Hölderlin etwa oder des jung gestorbenen Thomas Kling, mit dem sie eine enge Freundschaft verband.
Der zerrissene Halbmond im Fenster
Das vorliegende Gedicht entstand am 4. Dezember 1994, nachdem Friederike Mayröckers Mutter gestorben war. Zwar wird ihr Name nicht genannt, und auch sonst erfährt man über die Beziehung zwischen dem Ich und der Toten im Gedicht nichts Genaueres. Andere Gedichte aber, die in dieser Zeit entstanden und ebenfalls in dem Band „Notizen auf einem Kamel“ von 1996 enthalten sind, machen deutlich, dass es die Mutter ist, von der die Rede ist.
Doch für das Gedicht ist das nicht entscheidend: Worauf es ankommt, ist, dass in ihm eines geliebten Menschen gedacht wird, und das kommt in jedem Vers, in jedem Wort auf berührende Weise zum Ausdruck. Überaus zärtlich ist bereits das zentrale Bild der Nachtigall: Während dieser Vogel aufgrund seines überragenden Gesangsvermögens in Gedichten sonst meist emphatisch als Symboltier der Dichtung aufgerufen wird, geht es hier um sein Verstummen und vor allem um seinen tieftraurigen Blick – aus Augen, die mit Schnee in Verbindung gebracht werden, wohl weil sie schon trübe geworden sind. Dass mit der sterbenden Nachtigall ein Mensch beschrieben wird, zeigt sich erst im sechsten Vers, wobei der Wechsel von Tier zu Mensch übergangslos erfolgt, ganz so, als befände man sich in einem Traum. Unwirklich wirken auch die folgenden Bilder: Die Szenerie ist in Mondlicht getaucht, mit dem das Blau der märchenhaften „Nachtigallvilla jenseits des Wassers“ kontrastiert, Gegenwart und Vergangenheit zerfließen wie Realität und Imagination. Verstörend ist „die Schlafstube zugenäht“, das einzige Bild, das sich nicht auf Anhieb erschließt. Vielleicht sollte man es aber gar nicht restlos erklären wollen. Entscheidend ist seine große metaphorische Kraft: Eine Schlafstube, die zugenäht wurde, ist ein drastisches, schmerzhaftes Bild für einen Raum, den man nicht mehr betreten kann, der unzugänglich gemacht worden ist, und damit auch für das Ende einer Beziehung.
Von Ludwig van Beethoven ist der Satz überliefert: „Der Tod kann zum Ausdruck gebracht werden durch eine Pause.“ Im Gedicht wird er, analog dazu, durch einen Gedankenstrich markiert. Darauf folgt eine durch das Schaukeln der Toten im Leichentuch ausgelöste Welle von Erinnerungen: Sie führt nach „D.“, hinter dem sich Deinzendorf im niederösterreichischen Weinviertel verbirgt, wo die Großeltern Friederike Mayröckers ein Haus besaßen, in dem die Enkelin mit ihren Eltern die Sommerferien verbrachte. Sie hat diesen Kindheitsort in ihrem Werk immer wieder beschworen.
Mit einer Bewegung in die Höhe, dem Himmel zu, endet das Gedicht. Man kann sich dabei an Joseph von Eichendorffs „Mondnacht“ mit ihren sacht wogenden Ähren erinnert fühlen: „Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus.“ Ob der Himmel auch hier als Heimat begriffen wird, bleibt indes offen. Allenfalls der „Heiligenschein“ deutet in diese Richtung, er wird durch das Wort „gleichsam“ aber relativiert. Dennoch hat das Ende in den Gerstenfeldern, die an die Elysischen Felder der antiken Mythologie denken lassen, etwas Tröstliches.
Am 4. Juni 2021, fast dreißig Jahre nach ihrer Mutter, ist Friederike Mayröcker gestorben. Damit ist ihrem Gedicht eine weitere Bedeutungsdimension zugewachsen: Seitdem kann man kaum umhin, es auch als eine Vergegenwärtigung der Autorin selbst zu lesen. Für uns lebt nun auch sie im Bild der Nachtigall fort.
Source: faz.net