Festival „Le Piano Symphonique“ in Luzern
Zugaben, diese kleinen Abschiedsgeschenke des Solisten ans Publikum haben meist die Form poetischer Miniaturen oder virtuoser Leckerbissen, manchmal auch vertiefter Reflexionen. Nur selten beziehen sie sich auf das zuvor Gehörte in so suggestiver Weise, dass die besonderen Qualitäten der Interpretation noch einmal blitzartig in Erinnerung gerufen werden. Genau das war aber bei der Zugabe aus den „Kinderszenen“ von Robert Schumann der Fall, mit der sich Martha Argerich beim neuen Festival „Le Piano Symphonique“ in Luzern vom Publikum verabschiedete. Alles, was ihr Spiel in Schumanns Klavierkonzert so einzigartig gemacht hatte, erschien hier nochmals in größter Klarheit: die unablässige Gestik des Fragens und Suchens, die Kunst der einfachen Formulierung und das Staunen beim Nachzeichnen der poetischen Gedanken, als ob sie das Werk, das sie ihr Leben lang begleitet hat, gerade wieder neu entdeckte.
Ihr mitreißendes, vitales Spiel ist heute durch Nachdenklichkeit angereichert, sie hört tief in die Klänge hinein. Beispielhaft war der Beginn der Durchführung im ersten Satz, die sie wie eine aus der Ferne hereinklingende Phantasie gestaltete – ein Blick in die Gefühlswelt des verliebten Schumanns, im Charakter ebenso treffsicher erfasst wie der anschließende pianistische Höhenflug. Der Übergang des langsamen zweiten zum schnellen dritten Satz: ein intimes, weltabgewandtes Zwiegespräch von Klavier und Orchester, gefolgt von einem brillanten Finale. Abgeklärt war das alles überhaupt nicht, sondern vielmehr auf unnachahmliche Weise gereift; Poesie und Kraft, Verinnerlichung und Virtuosität ergänzten sich aufs Schönste, ganz im Sinne Schumanns.
Michael Sanderling dirigiert Brahms
Vor Argerichs vielbejubeltem Auftritt brachte das hoch motiviert aufspielende Luzerner Sinfonieorchester unter seinem Chef Michael Sanderling die dritte Symphonie von Johannes Brahms in zügigen Tempi zu Gehör, ein durch die Saalakustik unterstützter Trennklang sorgte für strukturelle Klarheit. Die hintergründigen Anklänge an den Volkston wurden sprechend phrasiert, golden leuchteten die exponierten Bläserakkorde. Das Orchester zeigte sich in glänzender Verfassung, eine gute Voraussetzung für die bevorstehende Gesamtaufnahme aller Brahms-Symphonien auf CD.
Zu den unbestreitbaren Pluspunkten des Festivals gehören die selten gespielten Werke, so etwa das Klavierkonzert von Ignacy Jan Paderewski. Der 1860 geborene Pole war als herausragender Pianist weltbekannt, bevor er sich der Politik zuwandte, um für ein freies Polen zu kämpfen – 1919 wurde er der erste Ministerpräsident des neu gegründeten Staats. Patriotische Anklänge machen sich auch im 1888 uraufgeführten Klavierkonzert in der Melodik und in den tänzerischen Rhythmen bemerkbar, und im brillanten, die Orchestertutti mit virtuosem Laufwerk umspielenden Klavierpart schimmert das Vorbild Chopin durch. Die Besetzung mit Yoav Levanon war ein Volltreffer. Der hochgewachsene Achtzehnjährige, Senkrechtstarter in der Klassikszene mit gepflegter Liszt-Mähne und langen, geschmeidigen Pianistenfingern, spielte sich mit unerhörter Leichtigkeit durch die herausfordernde Partie, die obligaten Oktavgänge hieb er mit einer Nonchalance in die Tasten, dass es nur so donnerte und blitzte.
Nach Paderewski erklang im zweiten Teil des Konzerts ein Soloprogramm von Vikingur Ólafsson, ein Beispiel für frische Ideen bei der Programmgestaltung. Der Isländer gehört zu jenen sanftmütigen Musikern aus der Generation der Millennials, die sich der Neuen Einfachheit 2.0 verschrieben haben. Das Gerüst seiner ohne Unterbrechung gespielten Stückefolge bildeten fünf Kompositionen des Minimalisten Philip Glass. Ihr kühl kalkuliertes Oberflächendesign wurde durch wohldosierte Gefühlsbeigaben des Interpreten subjektiv eingefärbt und veredelt, was ihnen zum Vorteil gereichte. Dazwischen eingestreut waren Einzelsätze aus der Vorklassik sowie die als „Sonata facile“ bekannte Sonate KV 545 von Mozart, die gleich bei den ersten Tönen ein hörbares Schmunzeln im Saal auslöste. Den Schluss bildeten neun etwas blasse Miniaturen eines Landsmanns von Ólafsson. Bei aller Perfektion des Spiels bewegte sich die Musik leider eine Stunde lang im selben schmalen Ausdrucksspektrum. Der Eindruck entstand, da spiele einer mit angezogener Handbremse, und zugleich machte sich ein Relaxeffekt bemerkbar. Vom Publikum wurde das durchaus goutiert. Bleibt die Frage nach den Motiven für dieses Abdriften in ein Nirgendwo, in dem alles schöner, reiner, friedlicher ist. Äußern sich darin die Sehnsüchte einer Generation, die das permanente Gerede und die Zerstreuungen des Internets, den Werbeterror und das Hickhack der Ideologien einfach satthat und sich in weniger anstrengende Scheinwelten zurückzieht?
In scharfem Kontrast dazu stand das Konzert des fast gleichaltrigen Tschechen Lukaš Vondráček. Auch er spielte ein Nonstop-Programm: zauberhafte Klavierstücke von Josef Suk und Tänze von Bedřich Smetana, beides in unseren Konzertsälen praktisch unbekannt, und danach die „Kreisleriana“ von Schumann. Dem unerhört konzentriert und klanglich akkurat gestalteten Parcours durch die hellen und dunklen Seiten der Romanik folgte das Publikum mit gebannter Aufmerksamkeit.
Künstlerischer Leiter des im vergangenen Jahr ins Leben gerufenen Festivals ist Numa Bischof Ullmann, ideenreicher Intendant des Luzerner Sinfonieorchesters und profunder Kenner des Betriebs. Mit dem Festhalten am klassisch-romantischen Kanon verbindet er die Vorliebe für klug zusammengestellte Programme mit bekannten und wenig bekannten Namen und ungewöhnliche Besetzungen. Im Mittelpunkt steht immer das Klavier, wobei die Bezeichnung „Le Piano Symphonique“ weit gefasst ist. Es soll in allen seinen Facetten vorgestellt werden, also auch in Solorezitals, in Kammermusik und Liedbegleitung. Das Klavier als grenzüberschreitendes, vielseitig einsetzbares Superinstrument, in dem das Potential orchestraler Vielfalt schlummert: An offenen Perspektiven herrscht kein Mangel.
Source: faz.net