Kraftwerk aus E-Autos – diese alte Speicher-Idee soll jetzt die Stromnetze retten
Autos sind keine Fahrzeuge, sondern Stehzeuge, die im Schnitt 23 Stunden am Tag nicht genutzt werden. Bei Elektroautos könnte das künftig anders werden. Denn neben ihrer Transportaufgabe haben private Pkw in Deutschland jetzt zum ersten Mal einen Nebenjob in der Energieversorgung übernommen.
Der Stromnetzbetreiber Tennet nutzt die Speicherkapazitäten mehrerer zusammengeschalteter E-Autos, um kurzzeitig auftretende Frequenzschwankungen im Leitungsnetz auszugleichen.
Es ist eine Vision aus den Anfangstagen der modernen Elektromobilität, die Tennet nun in Kooperation mit dem Speicherspezialisten Sonnen Gruppe verwirklicht: Batterien von E-Autos werden mithilfe einer digitalen Steuerung zu einem „virtuellen Kraftwerk“ zusammengeschaltet, das dabei hilft, das Leitungsnetz stabil zu halten.
Tennet zieht aus den Akkus allerdings keinen Strom. Dafür gibt es schlicht zu wenig E-Autos und Ladesäulen, die für das sogenannten bidirektionale Laden geeignet sind. Vorerst kann nur eine Minderheit der E-Autos Strom wieder zurück ins Leitungsnetz zurückspeisen.
Tennet sichert die Netzstabilität allein dadurch, dass mithilfe der Sonnen-Wallboxen und Stromspeicher reguliert wird, wann und wie die Autos geladen werden. Das System ist damit uni-direktional und damit für alle E-Autos geeignet. Die Stützung des Netzes „wird allein über einen intelligenten Ladevorgang erreicht“, betonen die Unternehmen. Vorteil: „Eine zusätzliche Abnutzung der Fahrzeugbatterien durch Entladen findet nicht statt.“
Ladevorgang dauert länger
Zugleich mildert das Projekt der beiden Unternehmen die Gefahr, dass das Stromnetz überlastet werden könnte, wenn zu viele E-Autos zeitgleich ans Netz gehen. Denn die Sonnen-Gruppe gestaltet den Ladevorgang bei ihren teilnehmenden Kunden neu: Durch die Einbindung in das virtuelle Kraftwerk werden die Ladevorgänge aller angeschlossenen Elektroautos gleichmäßig über einen längeren Zeitraum verteilt.
Lastspitzen zu einer bestimmten Tageszeit werden so vermieden, teilt das Unternehmen mit: „Grundlage hierfür sind die Vorgaben der Kundinnen und Kunden, wann sie ihr Auto wieder benötigen.“
Erst im zweiten Schritt werden dann Frequenzabweichungen des Stromnetzes per Primärregelleistung ausgeglichen. Hierfür kommen die Vorgaben von Tennet.
Das Garantieren einer Frequenz von genau 50 Hertz in der Leitung gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Netzbetreibers. Schon das plötzliche Absinken auf 49 Hertz würde einen großflächigen, unkontrollierbaren Stromausfall, Blackout genannt, auslösen. Und im Zuge der Energiewende und der Stilllegung großer Kraftwerke wird diese Frequenzhaltung zunehmend zur Herausforderung.
Alle Netzbetreiber kaufen deshalb sofort nutzbare Stromkapazitäten ein, die sogenannte Primärregelleistung, um den Frequenzabfall jederzeit verhindern zu können. Die Speicherkapazität der E-Auto-Batterien, die Sonnen dem Netzbetreiber anbietet, muss innerhalb von 30 Sekunden flexibel regelbar für den Ausgleich von Laständerungen zur Verfügung stehen. Die Autos der teilnehmenden Haushalte werden dabei weiter normal im Alltag genutzt.
Wenn alle Kunden der Sonnen-Gruppe mit ihren Wallboxen mitmachen, könnten so insgesamt 80 Megawatt Primärregelleistung zur Verfügung gestellt werden. Das Tennet-Netz, mit dem zwischen Nordseeküste und Alpenrand rund 33 Millionen Menschen versorgt werden, hat einen Bedarf von 170 Megawatt an primärer Regelleistung.
Um das Potenzial zu heben, muss aus bescheidenen Anfängen schnell etwas Großes werden. Denn zum Auftakt hat die zum Shell-Konzern gehörende Sonnen-Gruppe lediglich die Akkus von elf Fahrzeugen digital vernetzt. Im nächsten Schritt will Sonnen aber weitere 5000 „sonnenCharger“ genannte Wallboxen in den Garagen ihrer Kunden für das virtuelle Kraftwerk nutzen.
„Wir stehen an der Schwelle zu der Entwicklung eines Ökosystems der erneuerbaren Energien, die sich mit dem Beginn des Internetzeitalters vergleichen lässt“, sagt Sonnen-Chef Oliver Koch: „Bislang isoliert agierende Assets werden miteinander vernetzt und entfalten so ihr volles Potenzial.“
„Die Integration von E-Autos in das Stromnetz ist ein wichtiger Meilenstein, um auf die Herausforderungen der künftigen Stromverfügbarkeit reagieren zu können“, sagt Tim Meyerjürgens, Chief Operating Officer von Tennet. „Je mehr volatile, stark schwankende Wind- und Sonnenenergie in das Stromnetz einspeisen, umso elementarer ist die Schaffung neuer Speichermöglichkeiten zur Flexibilisierung und Stabilisierung des Gesamtsystems.“
Noch ein kleiner Markt
Auch für Tennet-Manager Meyerjürgens ist das nur der Anfang. Denn neben dem Bedarf an schneller Primärreserve hat der Netzbetreiber auch Bedarf an weiteren Arten von Reserveleistung. So existieren bereits separate Märkte auch für „Sekundär-“ und auch Minuten-Regelleistung“.
Hier könnten digital vernetzte Batteriespeicher ebenfalls einmal zum Einsatz kommen, glaubt Meyerjürgens: „Was heute erste E-Autos und Primärregelleistung sind, sind bald Millionen E-Autos und zahlreiche weitere Systemdienstleistungen für uns Netzbetreiber.“
Das ist wohl aus wirtschaftlichen Gründen nötig. Denn der Markt für Primärregelleistung ist wohl zu klein, um aus der Nutzung von Autoakkus ein großes Geschäft zu machen. Laut Monitoring-Bericht der Bundesnetzagentur gaben die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber im Jahr 2021 zusammen lediglich 86,2 Millionen Euro für die Beschaffung von Primärregelenergie aus.
Die Kunden von Sonnen, vom Unternehmen „sonnenCommunity“ genannt, haben meist eigene Immobilien und Fotovoltaikanlagen samt Speicher. Schon zuvor war Sonnen in der Lage, durch digitale Steuerung der Speicherung und Verteilung der Sonnenenergie die Strompreise ihrer Kunden deutlich zu drücken.
Einige mit besonders großer Solaranlage und niedrigem Verbrauch hatten sogar eine Null-Euro-Stromrechnung oder bekamen zum Jahresende sogar noch eine Gewinnbeteiligung ausgezahlt. Durch die zusätzliche Nutzung der dort ebenfalls verfügbaren Autobatterien durch Tennet fällt die Gewinnbeteiligung der Sonnen-Kunden noch größer, beziehungsweise ihre Stromrechnung noch geringer aus.
Nicht zu tun hat das neue Angebot mit Plänen der Bundesregierung zur Novelle des Paragrafen 14a Energiewirtschaftsgesetz. Die soll es Netzbetreibern erlauben, die Stromlieferungen für Elektroautos oder auch Wärmepumpen in eng begrenzten Notfallsituationen zu drosseln.
Überlastung durch Drosselung vermeiden
E-Autos etwa würden dann in solchen Mangellagen zum Beispiel über Nacht länger zum Laden brauchen. Haushalte, die über eine steuerbare Wallbox in der Garage oder Wärmepumpe haben, sollen dafür pauschal mit niedrigeren Netzentgelten auf der Stromrechnung entlohnt werden.
Die Drosselung des privaten Strombezugs durch den Netzbetreiber soll aber auf Notfälle begrenzt bleiben und kein Instrument sein, das dauerhaft genutzt wird.
Die Bundesnetzagentur führt derzeit eine Konsultation zu dieser Gesetzesidee durch. „Ladeeinrichtungen für Elektrofahrzeuge, Wärmepumpen, und zukünftig auch Batteriespeicher bedeuten teilweise beträchtlich höhere Bezugsleistungen in der Niederspannung, bei denen zudem mit einer deutlich höheren Gleichzeitigkeit als bei gewöhnlichen Verbrauchseinrichtungen zu rechnen ist“, schreibt die Bundesnetzagentur dazu.
Vielfach seien Elektrofahrzeuge, Wärmepumpen oder Batteriespeicher allerdings ansteuerbar, ohne einen nennenswerten Komfortverlust für die zweckgemäße Verwendung bei den Verbrauchern zu erleiden zu verursachen. Durch das temporäre Drosseln der Stromlieferungen für „steuerbare Verbrauchseinrichtungen“ solle die Überlastung des Netzes vermieden werden.
Der Vorteil für die Verbraucher, wenn das Gesetz verabschiedet wird, beschränkt sich nicht nur auf niedrigere Netzentgelte: Der lokale Netzbetreiber darf dann auch nicht mehr den Anschluss von Wärmepumpen oder Wallboxen mit der Begründung ablehnen, das Netz könne überlastet werden.
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Source: welt.de