Moderne-Biennale der Berliner Philharmoniker für Ligeti
Schwer vorstellbar, dass das Spiel dieses Pianisten jemanden unberührt lassen könnte. Bertrand Chamayou spielte im Kammermusiksaal der Philharmonie (er war fast ausverkauft) Werke des zwanzigsten Jahrhunderts und wurde dafür gefeiert, als hätte er wesentlich Populäreres präsentiert. Der Zugriff des französischen Pianisten ist unwiderstehlich: die Selbstverständlichkeit, die Leichtigkeit, die Virtuosität, das Ungekünstelte. So erscheint auch das Repertoire des Abends als völlig selbstverständlich: Luciano Berios dem Serialismus nahen „Cinque variazioni“, die unter Chamayous Händen zu funkelnden Edelsteinen werden, gleißend in ihrer Farbkraft; Olivier Messiaens „Cantéyodjayâ“, ein Stück, dessen kreisende Rhythmik und strophenartigen Bau er mit straffender Hand freilegt; John Cages „Daughters of the Lonesome Isle“ für präpariertes Klavier: Mit ungläubigem Staunen vernimmt man hier, wie Cage die Klänge eines kompletten Gamelan-Orchesters imitiert mit Gongs, Schellen, Flöten und jaulenden Streichinstrumenten – eine grandiose Spielerei; im krassen Gegensatz dazu dann Karl Amadeus Hartmanns Sonate „27. April 1945“ mit ihrer heftig hervorbrechenden Ausdrucksmusik.
Und schließlich György Ligetis „Musica ricercata“, elf Stücke, in denen der dreißigjährige Ligeti (damals noch in Budapest lebend) sich aufmacht, neue Wege zu finden zwischen Inspiration aus der Volksmusik seines Landes und Experimenten quasi wissenschaftlicher Art: Im ersten Stück verwendet Ligeti nur einen einzigen Ton, im zweiten kommt der Sekundschritt dazu. Dass man Ligetis Musik beim ganz allmählichen Wachsen zuhören kann, zeigen schon die frühen Stücke.
Chamayou präsentiert eine Bandbreite, die einen verdutzt fragen lässt, ob eine solche Buntheit in der heutigen zeitgenössischen Musik eigentlich auch noch anzutreffen ist. Damit gehört der französische Pianist zu den wenigen Künstlern, die bei der neuen Biennale der Berliner Philharmoniker dem weit gefassten Festivalthema gerecht werden können. In seiner ersten Ausgabe widmet sich das Festival der Musik der „50er- und 60er-Jahre“, György Ligeti (in diesem Jahr wäre er hundert Jahre alt geworden) steht im Mittelpunkt, schafft es aber nicht auf den Titel des Festivals. Aus Furcht, dass der Name das potentielle Publikum abschrecken könnte? So engagiert das Programm aus rund zwanzig Veranstaltungen auch wirkt mit seinem Bestreben, das gesamte Berliner Kulturforum mit Staatsbibliothek und Neuer Staatsgalerie einzubeziehen in Konzerten vom Orchester- bis zum Soloauftritt, mit Lesungen, Kursen und einem wissenschaftlichen Symposium – besonders mutig tritt es nicht auf. Und wer beim scheunentorweit gefassten Festivalthema auf den Anspruch annähernder Vollständigkeit hofft, sieht sich enttäuscht. Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, die beiden Platzhirsche im Musikleben jener Jahre, tauchen beim Festival gar nicht erst auf. Man habe sich im Fall von Boulez zurückgehalten im Hinblick auf dessen hundertsten Geburtstag in zwei Jahren, sagt die Intendantin der Berliner Philharmoniker, Andrea Zietzschmann, im Gespräch mit der F.A.Z. Stattdessen freue man sich, Einzelgänger jener Jahre präsentieren zu können, Boris Blacher zum Beispiel. Dass im Programm des Festivals keine einzige Komponistin auftaucht, hatte das Onlinemagazin VAN treffsicher gerügt.
Kirill Petrenko, der Chefdirigent des Orchesters, sowie sein Vorgänger Sir Simon Rattle hätten jeweils mit den Berliner Philharmonikern auftreten sollen, sagten ihre Auftritte aber aus gesundheitlichen Gründen ab. Für Petrenko übernahm Daniel Harding das Eröffnungskonzert. Die eigentlich geplante Uraufführung eines neuen Werkes von Miroslav Srnka wurde verschoben, Ligetis große Orchesterstücke „Atmosphères“ und „Lontano“ erhielten nun Gesellschaft von Meeresstücken von Claude Debussy („Okeaniden“) bis Benjamin Britten („Four Sea Interludes“).
So tauchten Ligetis revolutionäre Orchesterwerke einmal mehr in einer Schublade auf, in der sie der Komponist nicht gern eingeordnet sah: jener einer impressionistischen, bildunterstützend verstandenen Musik. Stanley Kubrick hatte das provoziert, indem er „Atmosphères“ als Filmmusik verwendete unter anderem in „2001: Odyssee im Weltraum“. Und doch ist Ligetis Musik so stark, dass sie sich gegen eine solche Einordnung gut behaupten kann.
Die Komplexität des fein angerauten Tutti-Klanges zu Beginn von „Atmosphères“: Man möchte ihr eigentlich noch viel länger auf den Grund horchen als es Ligeti zulässt, der das Klanggebilde nun allmählich zu variieren beginnt. Und wie bei „Lontano“ aus zarten Intervallreibungen der Holzbläser ein ganzes Stück erwächst, denkt man sich: So sieht wohl eine Schule des Hörens aus. Mit den einfachsten Schritten beginnen und nach und nach die Komplexität erhöhen. Das ist die wissenschaftliche, didaktische Seite in Ligetis Schaffen, wie sie bereits in der frühen „Musica ricercata“ zum Vorschein kam.
Sie bleibt auch im Spätwerk erhalten, im Violinkonzert von 1990 etwa, das das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin als Gast zur Aufführung brachte. Ligeti kehrt hier zur Musik seiner jungen Jahre zurück, greift ungarischen Volkston auf und bedient sich auch bei sich selbst: die weite Melodie aus dem siebten Stück der „Musica ricercata“, die Ligeti dort so traumverloren im Kanon kreisen lässt, taucht im zweiten Satz des Violinkonzertes erneut auf. Augustin Hadelich als Solist spielte mit aufrichtiger Melancholie und blieb in den übrigen Sätzen auch nicht die Lust am Glanzvollen, Virtuosen schuldig; Karina Canellakis steuerte das Orchester sensibel durch die klanglich hochdifferenzierte Partitur und führte anschließend mit Witold Lutosławskis kraftstrotzendem „Konzert für Orchester“ einen neuen Vergleichspunkt ein: Mit wie feiner Klinge war Ligeti doch in seinen Werken vorgegangen.
Source: faz.net