Julian Prégardien und Michael Gees mit ungewöhnlicher „Winterreise“

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Das steht da wirklich! „Gantz verstarret vnd erfroren / Durch den Schnee und strengen Nort / Jrr’ ich offters vmb den Port / Ruffe dir die ich verloren“. Klingt das nicht fast wie: „Ich such im Schnee vergebens nach ihrer Tritte Spur / Wo sie an meinem Arme durchstrich die grüne Flur“?

Im Jahr 2016 – erzählt der Tenor Julian Prégardien einigen Gästen im Frankfurter Goethehaus kurz vor dem Heimgehen – sei er auf die Ode „ Galathee“ von Martin Opitz gestoßen, sofort elektrisiert von der vierhundert Jahre alten Geschichte eines verstoßenen Liebenden, der durch Schnee und Eis irrt: „Manches Land muß ich noch sehen / Vnd mich lassen hin vnd her / Durch das weite wilde Meer / Manche rauhe Winde wehen / Eh’ ich / reicht mir Gott die Hand / Schawen kann mein Vaterland“. Ganz wie der Winterreisende bei Wilhelm Müller und Franz Schubert: „Und ich wandre sonder Maßen / Ohne Ruh’ und suche Ruh’“. Nach dem Fund habe er sofort seinen Kollegen Robert Holl angerufen und ihm davon berichtet. Der aber wusste schon, dass Müller den Text von Opitz seinerzeit neu herausgegeben hatte, ihn also kannte.

Der Arkadensaal im Goethehaus ist mit seiner Intimität ein Zwischenhalt auf dem künstlerischen Weg vom geschützten zum ungeschützten Raum. Prégardien und der Pianist Michael Gees haben diesen Raum für eine Premiere genutzt: Schuberts „Winterreise“ als Parallelerzählung zu Opitz’ „Galathee“, in Auszügen rezitiert zwischen den 24 – so Schubert – „schauerlichen Liedern“.

„Lauter!“ – „Mikro bitte!“ – „Man versteht nichts“, riefen einige Damen in raschelnden Steppjacken auf den hinteren Plätzen, aber Prégardien ließ sich nicht nötigen, sprach weiter klar und deutlich ohne Mikrofon. Und siehe: Das Wunder geschah. Je weiter der Abend voranschritt und die geschäftige Welt da draußen verblasste vor der hier erschaffenen aus Dichtung und Musik, desto besser wurde das Hörvermögen.

Was war das für eine „Winterreise“! Gees improvisierte zu den Rezitationen auf dem Klavier, machte sie zu kleinen Melodramen, schuf korrespondierende Formen zum Zeilenfall von Opitz’ Versen, aber völlig frei aus dem Moment.

So erstand auch Schuberts Musik bei den beiden: „Der greise Kopf“ beweglich wie ein Rezitativ, bei dem jede Phrase die Zeit bekam, die sie brauchte. Keine Wortklauberei, keine Didaktik mit dem erhobenen Zeigefinger der Diktion. Die melodische Phrase als Leib des Verses wurde in ihrer Farbe zum Bedeutungsträger. In „Letzte Hoffnung“ schienen mit den Blättern von den Bäumen auch die Taktstriche aus den Noten gefallen zu sein. Prégardien und Gees folgten den Versen so frei und doch streng wie Juliette Gréco jenen von Jacques Prévert in den Strophen von „Les feuilles mortes“. Ein Liederabend, der jede historische Distanz hinwegschmelzen ließ. Am Ende, nach dem „Leiermann“, lange Stille. Dann erkennbar die Verse von Ludwig Uhlands „Frühlingsglaube“, gesungen von Prégardien, begleitet, nein, gemeinsam erfunden mit Gees. Ein traumtaumelndes Entschweben ins Licht. „Nun muss sich alles wenden“ – vokale Duo-Improvisation, unwiederholbar, erstmals vor Publikum gewagt, ein Plädoyer fürs Lebenkönnen nach dem verbitterten Flehen um „Treue bis zum Grabe“.

Source: faz.net