Am 24. Februar begann Russland einen Angriffskrieg auf die Ukraine, wie ihn Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat. Dieser Text ist Teil unseres Schwerpunkts zum Jahrestag der russischen Invasion. Liana Fix ist Fellow beim Council on Foreign Relations (CFR).

Es ist Anfang Februar in Washington, D. C. Fast ein
Jahr nach dem Kriegsausbruch, vor dem er so eindringlich gewarnt hatte, fand CIA-Direktor William Burns – ehemaliger Botschafter in Moskau und
exzellenter Kenner russischer Politik – bei einer Veranstaltung der Georgetown
University deutliche Worte: Die nächsten sechs Monate seien entscheidend
im Krieg in der Ukraine. Wladimir Putin setze darauf, dass die Zeit für ihn arbeite und
eine erneute Chance biete, auf dem Schlachtfeld Gewinne zu erzielen. Von
diesem Glauben müsse er abgebracht werden.

Solche Äußerungen sind nicht nur zur
Mobilisierung der Unterstützung in der US-amerikanischen Öffentlichkeit gedacht.
Sie zeigen eine Realität auf, die in einigen europäischen Hauptstädten noch
nicht vollkommen angekommen ist: Nämlich, dass das Jahr 2023 nicht nur ein
entscheidendes Jahr in diesem Krieg sein wird, sondern auch vom Westen zu einem
entscheidenden Jahr gemacht werden muss. Dieser muss die Ukraine befähigen, eine erfolgreiche
Gegenoffensive durchzuführen, eine, die verhindert, dass Russland den Krieg noch auf Jahre
in die Länge zieht, mit abnehmender westlicher Unterstützung.

Im ersten Kriegsjahr unterstützte der Westen die Ukraine vor
allem reaktiv. Waffenlieferungen aus den USA und Europa erreichten die
ukrainische Armee stets kurz vor zwölf: gerade noch rechtzeitig und in minimal
ausreichender Anzahl, um unter großen Verlusten eine völlige Niederlage zu verhindern. 

Ein verlassener Panzer in der Nähe von Bohorodytschne

Innenpolitischen Realitäten verhinderten Panzerlierungen

Nach dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 dauerte
es mehrere Tage, bis sich die Stimmung von Widerstand ist zwecklos und
Diskussionen über eine ukrainische Exilregierung wandelte zu Hoffnung und
Optimismus, dass die russische Armee es nicht schaffen würde, Kiew einzunehmen
und die ukrainische Regierung sowie Präsident Selenskyj zu entführen oder zu
töten.

Selbst nach der für die Ukraine erfolgreichen Schlacht um Kiew dauerte
es mehr als ein halbes Jahr, bis sich in westlichen Hauptstädten die
Überzeugung durchsetzte, dass die Ukraine russischen Angriffen nicht nur
standhalten und sie zurückschlagen, sondern auch selbst erfolgreich in die
Offensive gehen kann. Die Befreiung von Charkiw war das Signal, das die Ukraine
benötigte, um unter Beweis zu stellen, dass sie diesen Krieg gewinnen kann.

Die Salamitaktik der westlichen Unterstützung wird
im Nachhinein gerechtfertigt als eine Strategie der Eskalationsvermeidung. Wie
der Frosch im Kochtopf, der nur langsam erhitzt wird und deshalb nicht
herausspringt, sollte mit der graduell steigenden Unterstützung Putin
kein Vorwand geliefert werden, um zu eskalieren. 

Das ist natürlich nur die
halbe Wahrheit. Tatsächlich hätten die innenpolitischen Realitäten in vielen
Ländern, die die Ukraine unterstützen, es nicht erlaubt, bereits im Sommer
vergangenen Jahres zum Beispiel Leopard-Panzer zu liefern. Auch die öffentliche
Meinung hat sich dem Kriegsgeschehen angepasst. Damit folgte die Unterstützung
für die Ukraine stets dem Prinzip des Auf-Sicht-Fahrens, anstatt proaktiv zwei oder
drei Schritte vorauszudenken.

Es wird deshalb für immer eine kontrafaktische
Frage bleiben, was gewesen wäre, wenn die Ukraine bereits frühzeitig das heutige Ausmaß
an Unterstützung erhalten hätte. Zum
Beispiel im vergangenen Herbst, als die russische Armee sich kopflos aus Charkiw
und weiteren Gebieten zurückgezogen hat. Vielleicht hätte der Krieg dann
bereits deutlich früher enden können.

Russland ist aktuell nicht bereit, eine Niederlage einzugestehen

Die Reste einer russischen Rakete

Dieser reaktive Ansatz des Westens muss sich im
zweiten Kriegsjahr ändern, wenn der Krieg nicht zu einem forever war – einem
ewigen Krieg – werden soll. Ein Begriff, der insbesondere bei progressiven
Kräften in den USA nach den Erfahrungen im Irak und in
Afghanistan Schrecken auslöst. Der Westen benötigt eine proaktive Theorie des Sieges. Der
US-amerikanische Sicherheitsexperte Brad Roberts definiert eine “Theorie des Sieges”
als innere Logik in den eigenen Handlungen, die den Gegner in eine
Position bringt, aus der heraus sich sein Verhalten ändert, zum Beispiel, um die
Kosten und Risiken im Konflikt zu reduzieren.

Das bedeutet konkret: Die Ukraine
muss so ausgestattet werden, dass sie nicht nur eine russische
Frühjahrsoffensive zurückschlagen kann. Sie muss ihrerseits auch eine erfolgreiche
Gegenoffensive führen können, die im Idealfall russische Truppen in die Nähe der
Ausgangslinien vom 24. Februar zurückdrängt – und damit das russische Kalkül, diesen
Krieg unbegrenzt fortzuführen, verändert. 

Dies kann zum Beispiel bedeuten, die
Landbrücke auf die Krim zu unterbrechen, sodass russische Soldaten wieder im
Osten und Süden voneinander isoliert sind, wie es bereits in den Jahren vor dem
Angriff im Februar 2022 der Fall war. Dann ist der Krieg zwar immer noch nicht
gewonnen und ukrainisches Territorium nicht vollständig befreit. Aber es wäre
eine erfolgreiche Zwischenetappe, die durchaus als Sieg für die Ukraine und den
Westen deklariert werden könnte.

Ein zerstörtes Gebäude in Borodjanka

Bisher galt Qualität vor Quantität

Ein solches politisches Signal – dass der Krieg
nicht einfach in einen Stellungskrieg übergeht, bei dem mal die eine, mal die
andere Seite Geländegewinne erzielt, sondern dass es einen Punkt und ein Ziel
gibt, an dem Erfolg gemessen werden kann, ist für die Öffentlichkeit wichtig.
Die Alternative ist, Russland die Deutungshoheit über Sieg oder Niederlage zu
überlassen.

Russland hat eine solche Theorie des Sieges, William Burns hat davor gewarnt: Die
russische Führung spielt weiterhin auf Zeit und hofft darauf, dass die
westliche Unterstützung und die Entschlossenheit der Ukraine abnehmen wird,
sobald das Jahr 2023 in das Jahr 2024 oder gar 2025 übergeht. Weder ist die
russische Führung zum aktuellen Zeitpunkt bereit, eine Niederlage
einzugestehen, noch ist sie bereit für ernsthafte Verhandlungen, um eine potenzielle Niederlage abzuwenden. Die scheinannektierten Gebiete in der
Ukraine – die zum Teil gar nicht von Russland kontrolliert werden – werden von
Moskau nicht als Verhandlungsmasse betrachtet. Für Wladimir Putin ist das “historisches” russisches Territorium, das er unter Strafandrohung auf neue
Karten drucken lässt.

Auch sieht Moskau sein eigenes Potenzial noch nicht
erschöpft. Es kann weiterhin Waffen auf niedrigerem technischen Niveau
produzieren, verhandelt mit dem Iran über eine Drohnenfabrik in Russland und
kann weitere Hunderttausende Soldaten rekrutieren, zusätzlich zu den
geschätzten 300.000 vor Ort. Bisher galt Qualität vor Quantität in diesem Krieg – die Qualität der ukrainischen Waffen und Kriegsführung war der Quantität der
russischen Waffen und Truppen überlegen. Dafür muss jedoch die Qualität der
Ukraine kontinuierlich sichergestellt und verbessert werden, je mehr Quantität
Russland in diesen Krieg wirft.

Je länger der Krieg andauert, desto größer ist zudem die Eskalationsgefahr. Das kann auch eine
unbeabsichtigte Eskalation sein, wie das Beispiel im November gezeigt hat, als Trümmer
der ukrainischen Luftabwehr in Polen einschlugen und zwei Menschen töteten. Dieser Krieg braucht im Jahr 2023 eine entscheidende Wendung.

Die Leopard-Panzer könnten gerade rechtzeitig ankommen

Ein brennender Weizenspreicher in Kupiansk

Die bisherigen Signale, dass die
USA in diesem Krieg als Führungsmacht die Relevanz dieses zweiten Kriegsjahres
verstanden haben und die europäischen Alliierten ebenfalls dazu bewegen, der
Ukraine frühzeitig mehr Unterstützung zu liefern, sind vielversprechend. So unglücklich die Debatte
über die Leopard-Panzer
verlaufen ist: Sie könnten noch gerade rechtzeitig
ankommen, um der Ukraine eine späte Frühjahrsoffensive zu ermöglichen.

Der Politikwissenschaftler Hal Brands bezeichnete das Bemühen der USA
als US-amerikanische Variante der gerne so bezeichneten russischen
Nukleardoktrin Eskalieren, um zu deeskalieren: Eine Eskalation der
Unterstützung für die Ukraine, damit dies Russland zur Deeskalation auf dem
Schlachtfeld zwingt.

Die Analogie ist nicht ganz korrekt: Die Dynamik der
Eskalation wird von russischer Seite vorangetrieben, die sich mit neuen Truppen
und neuen Waffen auf eine erneute Aggression im Frühjahr vorbereitet, nicht von
westlicher Seite. Panzerlieferungen an die Ukraine sind allenfalls eine Art Eskalation der Selbstverteidigung. Dennoch trifft es die Herausforderung gut,
vor der der Westen in diesem Jahr steht: Der Westen muss bildlich gesprochen vor die Bugwelle
kommen, um diesen Krieg schneller zu beenden. 

Ein altes Antonov Flugzeug auf dem Flughafen von Hostomel

Die Rahmenbedingungen für die Ukraine sind 2023 noch gut

Das ist selbst bei fortgesetzter Unterstützung möglich, aber keine leichte Aufgabe. Russland hat sich in Stellungen im Süden
und Osten eingegraben. Der russische General Surowikin hat aus den Fehlern der
Vergangenheit gelernt und die russischen Verteidigungslinien mit dem Abzug aus
Cherson gestärkt, bevor er wieder abgesetzt und mit dem russischen Chef des
Generalstabs Gerasimow ersetzt wurde.

Die Ukraine hat zudem keine ausreichende
Flugabwehr und keine Lufthoheit, um russischen Raketenbeschuss zu verhindern
und gegenüber Russland eine deutliche Überlegenheit in einer Offensive ins Feld
führen zu können. Auch eine Rückeroberung der Krim, die größte Eskalationssorge
im Westen, ist mit der jetzigen Stärke des ukrainischen Militärs
unwahrscheinlich. Die Panzerlieferungen an die Ukraine waren ein wichtiger
Schritt. Weitere Unterstützung muss jedoch zügig erfolgen. Der Westen darf
nicht wieder nur auf russische Angriffe reagieren, sondern muss sich mit der
Ukraine auf ein Ziel verständigen, das in diesem Jahr erreicht werden soll –
und dann die Ukraine mit allem ausstatten, was zur Erreichung eines solchen Interimssieges nötig ist.

Nicht zuletzt ist das Jahr 2023 auch aufgrund der
politischen Rahmenbedingungen das wahrscheinlich vorteilhafteste Jahr für die
Ukraine. Bereits jetzt ist es unwahrscheinlich, dass mit einem republikanisch
dominierten Repräsentantenhaus das gleiche Ausmaß an finanzieller und
militärischer Unterstützung für die Ukraine fortgesetzt wird, sobald das
bisherige Paket aufgebraucht ist. Die Wahlen in den USA im Herbst 2024 werden
die Aufmerksamkeit der jetzigen US-Administration beanspruchen. Auch die
Ukraine hat im nächsten Jahr Wahlen.

Es besteht jetzt ein Zeitfenster, in dem Russland die
Hoffnung auf einen Sieg in der Ukraine genommen werden kann. Dieses Zeitfenster
muss genutzt werden.