Deutsche Filme auf der Berlinale: Ein Hanswurst des Denkens

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Ein Festival ist ja nicht nur eine An­samm­lung von Filmen. Es ist ein Gruppenbild, ein Mosaik, ein Spiegel, in dem sich schemenhaft das Kino der Zukunft abzeichnet. Deshalb wundert man sich, dass so viele der Filme, die im Wettbewerb der Berlinale gezeigt werden, mehr von der Vergangenheit als von der Gegenwart handeln und ihre Geschichten in engen Räumen statt in weiten Landschaften ansiedeln.

In Zhang Lus „Der schattenlose Turm“ fährt ein Restaurantkritiker mit seiner Freundin aus Peking in die Provinz, um sich mit seinem von der Familie verstoßenen Vater zu versöhnen. In Celine Songs „Past Lives“ trifft eine nach Amerika ausgewanderte Koreanerin nach zwanzig Jahren in New York ihre Jugendliebe wieder. Und in „20.000 Bienenarten“ von Estibaliz Solaguren findet ein Junge, der sich als Mädchen fühlt, in einem Familienurlaub zu seiner neuen Identität. Was ist aus den großen Aufbrüchen geworden, von denen das Kino des späten zwanzigsten Jahrhunderts lebte? Wenn es die Geschichten, die aus den Innenräumen ins Freie führen, den Serienproduzenten überlässt, wird es tatsächlich zu einer Form von gestern.

Angela Schanelecs „Music“ greift dagegen weit ins Vorgestern zurück, um eine Geschichte von heute zu er­zäh­len. Der Film ist, wenigstens in der Vorstellung seiner Regisseurin, eine Aktualisierung des Mythos von Ödipus: Ein Säugling wird in den griechischen Bergen ausgesetzt und von Pflegeeltern aufgezogen. Der junge Mann, bei Schanelec heißt er Jon, tötet aus Zufall einen anderen Mann und kommt dafür ins Gefängnis. Iro, seine Wärterin, verliebt sich in ihn, die beiden bekommen eine Tochter. Doch dann entdeckt Iro, dass Jon der Mörder ihres Jugendfreundes ist, und stürzt sich von einer Klippe. Jon nimmt die Tochter mit nach Berlin, wo er als Sänger Karriere macht und dabei allmählich erblindet.

Was Ödipus auf Griechisch heißt

Wer in dieser Geschichte das my­thi­sche Vorbild erkennt, hat in der Schule gut aufgepasst. Und wer weiß, dass Ödipus auf Griechisch „Schwellfuß“ heißt, wird auch jene Szenen deuten können, in denen Schanelecs Hauptdarsteller Aliocha Schneider mit wunden Füßen zu sehen ist. Im Übrigen stellt sich die Frage, ob der Film auch ohne solches Vorwissen, als reine Erzählung, zu verstehen ist. Nach der Berlinale-Vorführung von „Music“ muss man die Frage verneinen. Wie immer bei An­ge­la Schanelec sind die Leerstellen zwischen den Kamerabildern genauso wichtig wie die Bilder selbst, aber diesmal wirken auch die Bilder manchmal wie Leerstellen. Sie behaupten etwas, das nicht zu sehen ist: Liebe, Grausamkeit, Be­stür­zung, Selbsterkenntnis, Glück. Für dieses Un­sicht­bare springt in „Music“ die Musik ein: Arien von Händel, Pergolesi, Purcell und Songs des Kanadiers Doug Tielli. Aber die Verbindung zwischen Gesungenem und Ge­zeig­tem bleibt vage, die Töne sind den Figuren mehr in den Mund gelegt, als dass sie aus ihnen herausströmen. Der Mythos gleicht bei Angela Schanelec einem antiken Tonkrug, den je­mand aus dem Boden gegraben und in eine Blumenvase verwandelt hat.

Das Problem der Wiedererkennbarkeit

Robert Schwentkes Film „Seneca“, der in Berlin in der „Special Gala“-Reihe läuft, hat das Problem der Wiedererkennbarkeit nicht. Hier ist von An­fang an klar, dass es um den römischen Philosophen Lucius Annaeus Seneca geht, den Erzieher des blutrünstigen Kaisers Nero, und wer es nicht glauben will, dem hämmert es eine Erzählerstimme unmissverständlich ein. „Seneca“ sieht aus, als hätte Christoph Schlingensief ein Drehbuch von Peter Greenaway verfilmt: Theaterblut, angerührt mit Bonmots, Schreie und Seufzen, eine schöne blonde Frau (Lilith Stangenberg) und eine Bauruine in der marokkanischen Wüste, die als Philosophenvilla dient. Und John Malkovich.

Dass Malkovich Seneca spielt, ist im Grunde schon die ganze Idee des Films. Aber sie funktioniert. Denn Malkovich, angetrieben von Schwentke, denkt nicht daran, den edlen Römer zu geben. Er ist ein Opportunist, ein Zyniker mit schlechtem Gewissen, ein Hanswurst des käuflichen Denkens. Und er weiß es, er spricht es aus. Er textet uns zu mit seinen Feigheiten, seinen Lebenslügen, seinen Lieber-ich-als-ein-anderer-Kompromissen, er redet, bis man die Tinte an seinen Fingerkuppen zu riechen glaubt. Als der Bote kommt, den Nero gesandt hat, ihm sein Todesurteil zu überbringen, da will er nicht wahrhaben, dass ihm jetzt das Wort entzogen wird, dass die Macht, die er aufgepäppelt hat, nichts mehr von ihm hören will. Er kämpft um ein allerletztes, ein Sterbenswort, und dann um noch eins und noch eins, bis seine Gäste sich davonmachen und mit ihnen die Frau, die er geliebt hat.

Schließlich ist er mit seinem Henker allein. Aus den Ve­nen, die er sich hat öffnen lassen, um leichter ins Jenseits zu gleiten, kommt kein Blut, nur die Worte quillen weiter aus seinem Mund, mal als Verfluchungen der Menschheit (die Schwentke unnötigerweise mit aktuellen Nachrichtenbildern illustriert), mal als Abgesang auf die schöne, vertane Zeit. Die Kamera kann sich nicht sattsehen an Malkovichs Gesicht, während er den Schlusschor seines Lebens singt, sie berauscht sich an diesem Auftritt wie an einer Droge, und der Zuschauer wird mit hineingezogen in diesen Rausch. „Being John Malkovich“, der Titel eines längst vergessenen Films, ist eben doch kein leeres Versprechen.

Dann ist der Kampf vorbei. Der Mund des Philosophen wird müde, sein Auge starr. Seine letzten Worte, mehr geheult als gesprochen, sind „Mama, es tut weh.“ Vielleicht ist an den Familienfilmen ja doch etwas dran.

Source: faz.net