Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Durchhalten, irgendwie

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Abends, wenn die kleine Olenka im Bett ist, streift Nastja Samojlenko ihre Uniform über und zieht die schusssichere Weste mit den drei Ersatzmagazinen vor der Brust fest. Sie geht die Rolltreppen hi­nunter durch das fahle Licht der Unterführungen und dreht ihre Runden um den mächtigen Bau des Kiewer Hauptbahnhofs, vorbei an den Menschen, die aus den tiefen U-Bahnhöfen quellen und eilig nach Hause wollen oder noch in die Stadt, vorbei am Leben, das Kiews Straßen längst wieder füllt.

Nastjas Leben steht still, seit Jurij nicht mehr da ist. Aber sie muss weitermachen, schon für die kleine Olenka, fünf Jahre alt, die jetzt in dem kleinen Zimmer mit den vielen Kuscheltieren bei ihrer Großmutter schläft. Und so dreht sie weiter ihre Runden, immer zwei Nächte am Stück, dann ist Pause.

Mit Jurij hatte sie ihre Leidenschaft fürs Militär geteilt. 2014, nach der Re­volution der Würde auf dem Maidan, hatten sie sich in einer der vielen neuen Milizen kennengelernt. Sie wurden in die Polizei eingegliedert, in eine Truppe, die hinter der Front im Donbass ar­beiten sollte. Jurij war bei der Antifa, der extremen Linken. Das ist in der Ukraine kein Widerspruch zum Soldatentum. Im Gegenteil, wer die Freiheit verteidigen will, zu denken wie er will, muss hier bereit sein, gegen die russische Unterwerfung zu kämpfen.

Im September kam Jurij ums Leben

Nastja hatte keine Ahnung von Politik. Sie kam aus einem kleinen Dorf in der Westukraine, wo die Menschen noch in die Kirchen gehen. Aber sie fühlte sich von Jurij angezogen, dem Großgewachsenen mit den hellen Augen, der immer eine selbstsichere Ruhe ausstrahlte. Er sei ein Anführer gewesen, sagt sie. „Und wenn er etwas anfing, hat er es zu Ende gebracht.“

Nastja Samojlenko mit ihrer Waffe in ihrer Wohnung

Nastja Samojlenko mit ihrer Waffe in ihrer Wohnung : Bild: Yulia Serdyukova

2017 kam Olenka zur Welt, seit dem blieben sie in Kiew, er in der Militär­verwaltung, sie als Polizistin. Bis der 24. Februar vergangenen Jahres kam und sie am frühen Morgen die ersten Explosionen hörten, noch bevor die Sirenen heulten. Sie hatten es kommen sehen, wie viele in der Ukraine, die sich schon lange keine Illusionen mehr über Putins wahre Pläne machten. „Und mir war klar, dass Jurij kämpfen musste“, sagt Nastja.„Er konnte nicht anders, seine Freunde waren da und gaben ihr Leben.“

Nach dem Kampf um Kiew hatte er eine Weile Pause. Aber Ende Au­gust wurde Jurij mit der 67. Brigade ins Charkiwer Gebiet verlegt. Am 9. September kam der Anruf von einem seiner Kameraden. Jurij Samojlenko hatte einen Schuss in den Unterbauch abbekommen, als ein russischer Panzer in wildem Tempo durch die ukrainischen Linien raste und mit dem Maschinengewehr um sich feuerte, bis er gegen einen Baum krachte. In der Nacht versuchte man noch, die Blutung zu stoppen. Doch um 1.40 Uhr hörte sein Herz auf zu schlagen.

An der Front im Osten gibt es hohe Verluste

Ein Jahr nach Beginn des russischen Überfalls ist die Ukraine voll von diesen Geschichten. Ganz vorn auf dem Friedhof in Obuchiw, dem Kiewer Vorort etwas den Dnipro herab, wo Nastja wohnt, sind um Jurij herum gut ein Dutzend frischer Gräber aufgeschüttet. Die erste Reihe für die Helden. Die Fotos auf den Holzkreuzen zeigen junge Männer mit Gesichtern voller Zuversicht, manche sind kaum zu sehen unter den schulterhohen Blumengedecken

Dahinter die Grabsteine derer, die schon in den Jahren seit 2014 im Donbass gefallen sind. Ein alter Freund von Jurij liegt schon seit 2019 dort. Wenn Nastja zu Jurij geht, küsst sie das Kreuz an seinem Grab und streicht auf dem Bild mit ihrem Daumen sanft über seine Wange. Die kleine Olenka will, wenn sie ihren Vater besuchen gehen, immer noch in den nahen Kiefernwald gehen, wo die Haustiere begraben sind und sie die Bilder der kleinen Hunde betrachten kann.

Nastja als Polizistin auf Kontrollgang in Kiew

Nastja als Polizistin auf Kontrollgang in Kiew : Bild: Yulia Serdyukova

Abends, wenn sie am Bahnhof ihre Streife geht, kann Nastja die vielen jungen Männer sehen, die mit ihren grünen Uniformen und den großen Rucksäcken, den Marschbefehl in der Tasche, zu Zügen in Richtung Osten gehen. An den Bahnsteigen stehen sie in Gruppen und rauchen, und versuchen sich mit Scherzen Mut zu machen. Jeder weiß, dass entlang der Front im Donbass, vor allem um die beinahe eingeschlossene Stadt Bachmut, die heftigsten Kämpfe toben und sie dort schon in wenigen Tagen den Tod finden können.

Der Krieg ist abseits der Front ein ständiger Begleiter

Doch in den Städten geht das Leben weiter, je weiter man nach Westen kommt, desto mehr. In Kiew sind die Straßen voller Menschen, der Alltag ist schon lange wieder zurück. Wer noch einen Job hat, hetzt zur Arbeit, andere streifen durch die Läden und abends lehnen in den Kneipen junge Hipster an den Theken, wie man sie in jeder anderen europäischen Hauptstadt findet. Auch wenn weiter Millionen Ukrainer im Ausland ausharren, füllen sich die Städte im Zentrum und im Westen des Landes mit den Menschen aus den umkämpften Gebieten. Und während Städte wie Charkiw im Nordosten nachts noch in tiefe Dunkelheit gehüllt sind und sich die Menschen mit den Lampen ihrer Handys den Weg bahnen, leuchten die Straßen in Kiew beinahe wie eh und je.

Stromabschaltungen waren in den Wochen vor dem Jahrestag nicht mehr nötig, das Netz halbwegs stabilisiert. Nur die vielen Generatoren, die noch in den Ecken bereitstehen, zeugen noch von den Monaten, in denen Russland mit aller Kraft ukrainische Kraftwerke bombardierte und dadurch Finsternis in die Städte brachte. Die vielen Kontrollposten, die in den ersten Kriegsmonaten überall aus Betonquadern und Sand­säcken errichtet wurden, stehen fast nur noch an Ausfallstraßen, wo hastig zu­sammengeschweißte Panzersperren vor sich hinrosten und die Schützengräben in den Grünflächen davon zeugen, wie nah die russischen Invasionstruppen einmal waren. Auf dem großen Platz vor dem Michaelskloster, wo Präsident Wolodymyr Selenskyj vor wenigen Ta­gen Joe Biden empfing, sind die Wracks zerschossener russischer Panzer auf­gestellt, daneben die Statue der Prinzessin Olga, umhüllt von Sandsäcken, die langsam von der Witterung zersetzt werden.

Laute Musik und teure Drinks: Das Leben geht weiter.

Laute Musik und teure Drinks: Das Leben geht weiter. : Bild: Helena Lea Manhartsberger

Doch den Menschen war immer klar, dass Wochen der Ruhe nur ein Moment des Durchatmens sein würden vor der nächsten Welle russischer Raketen- und Drohnenangriffe. Ohnehin ist auch bei denen, die in den vergangenen Wochen bei lauter Musik teure Drinks schlürften, der Krieg ständiger Begleiter. „Wir tanzen auf einem Vulkan“, sagt Tanja, eine aufgedrehte Blondine, die mit einer Freundin laut an der Bar scherzt, und dann plötzlich ernst wird: „Wir wissen nie, wann es vorbei sein wird.“ Das schlechte Ge­wissen sitzt in den Hinterköpfen der Menschen in Kiew, dass sie selbst noch immer hier sitzen, während andere im kalten Schlamm der Schützengräben den russischen Angriffswellen trotzen.

Die Erschöpfung ist überall zu spüren

„Wir denken alle ständig darüber nach, was wir tun können und wann es Zeit für uns ist“, sagt Dima, ein Infor­matiker Mitte 20, der mit einem Freund in einer Kneipe in den Altbaustraßen der Innenstadt sitzt. Er selbst habe ei­nen guten Job, zahle Steuern und spende viel an die Armee. Irgendwer müsse das Land ja am Laufen halten. „Aber ich weiß, das kann irgendwann nicht mehr genug sein.“ Er erzählt auch von den ersten Kriegsmonaten, als er sich vor dem russischen Vormarsch auf Kiew mit seiner Familie in der Westukraine in Sicherheit gebracht hat. Schon da habe er in den Blicken der Frauen gespürt, dass sie wohl dachten: „Warum bist du hier in Sicherheit, während unsere Söhne für dein Land kämpfen?“

Für viele junge Ukrainer spielte der Krieg keine Rolle, bis sie am Morgen des 24. Februars 2022 aus ihrem alten Leben gerissen wurden. Wer keine militärische Ausbildung hat und noch weit hinten auf den Rekrutierungslisten steht, bereitet sich nun auf die ein oder andere Art innerlich auf das, was kommen wird, vor. Vor allem Kurse in Drohnenaufklärung sind in der technikbegeisterten Mittelschicht gefragt. „Vielleicht ist es das Gefühl, etwas mehr mit seinen Fä­higkeiten machen zu müssen, als im Schützengraben zu liegen“, sagt einer. „Aber wahrscheinlich wollen wir einfach nur nicht in der ersten Reihe im Feuer der Russen liegen.“ Und bis es so weit ist, noch das Leben genießen. Der Kampf werde noch lange dauern, da sind sich fast alle sicher.

Doch die Erschöpfung nach einem Jahr des Krieges ist überall zu spüren. Noch immer wird das Land von der Welle der Freiwilligeninitiativen getragen, die für Soldaten sammeln, Brot für die Front backen und Flüchtlinge aus dem Osten versorgen. Doch auch die Kraft der Menschen ist endlich. Als die Invasion begann und die russischen Truppen nach wenigen Tagen vor Kiew standen, hatte sich auch Boris bei den Freiwilligenverbänden gemeldet. Ein schmaler junger Mann mit schüchternem Lächeln. Zuvor war er Dekorateur und arbeitete in seiner kleinen Werkstatt in einer alten Fabrik am Rande der Kiewer Innenstadt.

Boris baut Öfen für die Soldaten an der Front

Erst hatte er es bei den offiziellen Rekrutierungsstellen versucht, doch die Schlangen waren so lang, dass er einfach zu einem Checkpoint ging und dort ein Gewehr bekam. Er drängelte so lange, dass er kämpfen wolle, bis sie ihn in einen gelben Schulbus steckten, der nach Irpin fuhr, jenem Vorort der Hauptstadt, in dem im März die heftigsten Kämpfe tobten und der russische Vormarsch schließlich ge­stoppt wurde. Nach ein paar Tagen im Gefecht explodierte nahe bei Boris eine Mine. Zwei Monate lag er im Krankenhaus. Seine Kameraden waren inzwischen an die Front im Donbass verlegt worden. „Als ich gehört habe, dass ei­ner nach dem anderen von ihnen getötet wird, habe ich gemerkt, dass ich das nicht kann.“

Um dennoch etwas zu tun, schloss er sich eine Weile lang einer Initiative an und nähte Zelte für die Armee. Schließlich kam er auf die Idee, kleine Öfen für die Front zu bauen. Es war Herbst, der Winter stand vor der Tür, und die Soldaten froren in den Schützengräben. Ein Kumpel brachte ihm bei, Metallplatten so zu schneiden und zu bearbeiten, dass man sie zu einem kleinen Kasten zusammenstecken kann, oben ein Abzugsrohr und vorn eine kleine Klappe zum Öffnen.

Möchte irgendwie helfen: Boris baut jetzt Öfen für die Front.

Möchte irgendwie helfen: Boris baut jetzt Öfen für die Front. : Bild: Yulia Serdyukova

Den ganzen Winter durch hat er in seiner kalten Werkstatt gefräst und geschraubt. Andere Helfer zahlen ihm einen kleinen Betrag, um die Unkosten zu decken, und schicken die Öfen an die Front. „Aber es fühlt sich komisch an, hier in Kiew zu sein, wo das Leben ganz normal weitergeht“, sagt er und knetet seine schwieligen, schmalen Hände, während das Mittagslicht durch die schmutzigen Schreiben in seine Werkstatt fällt. Und im Sommer, wenn keiner mehr Öfen brauche, was solle er dann tun?

Am Anfang war es leichter, da wurde einfach alles ge­braucht und jeder konnte etwas beitragen.“ Die Initiativen waren in den ersten Monaten auch eine Form der Selbsttherapie, als der Schock so tief saß und die Menschen irgendetwas tun mussten, um für einen Moment die innere Unruhe zu vergessen oder sie zumindest in etwas Positives zu wandeln. „Vor dem Krieg hat sich jeder nur um sich selbst gekümmert“, sagt Boris, „aber dann waren sie wirklich aktiv, jeder hat gemacht, was er irgendwie konnte.“ Doch irgendwann kommen der Alltag und die Gewöhnung zurück . „Viele meiner Freunde machen inzwischen andere Dinge. Hier fühlt man den Krieg nicht mehr“ Aber an der Front, da gehe alles so weiter wie ge­habt.

Das Soldatensein ist nichts für ihn, das hat er inzwischen akzeptiert. Zu­mindest, bis er irgendwann verpflichtet wird. „Aber ich habe das Gefühl, dass ich näher an die Front muss.“ Er wolle sehen, was die Leute dort wirklich brauchen, und sich mit dem, was er gelernt hat, nützlich machen. Doch was genau, das weiß er selbst noch nicht. Und bis dahin hat er noch 30 Öfen auf seiner Bestellliste, die er abarbeiten muss, möglichst schnell, denn noch ist es bitterkalt im Donbass.

Nastja spürt den Drang, selbst an die Front zu gehen

Nastja hat ihren Dienst, um sich nützlich zu machen. Und morgens, wenn sie zurück ist von ihrer Schicht am Bahnhof, verbringt sie den Tag mit der kleinen Olenka. Sie hatte lange gebraucht, um die Kraft zu finden, dem Mädchen zu sagen, dass ihr Vater für immer fort sein wird. Manchmal fragt diese sie noch immer, wann er denn wiederkommt und was mit ihm ist. „Wenn er blutet, kann ich ihm doch ein Pflaster geben“, hat sie einmal gesagt. Dann erzählte Nastja ihr, dass er nachts vielleicht als Engel an ihrem Fenster winke, doch es half nicht. „Nach ein paar Tagen war sie enttäuscht und fragte, warum er noch immer nicht gekommen ist.“

Neulich hat Nastja eine flache Vitrine bestellt, ein Holzrahmen, oben eine ukrainische Flagge, der Rest ausgekleidet mit grauem Filz, in den sie Jurijs Bild geheftet hat mit all seinen Orden und Abzeichen. Solche Schreine für die Gefallenen kann man in der Ukraine inzwischen im Internet bestellen. Er soll über Olenkas Bett hängen, damit ihr Vater immer bei ihr ist. Nur seien die Betonwände so verflixt hart, dass sie einen Mann bräuchte, damit er ordent­liche Löcher bohre, sagt sie.

Ein Rahmen mit einem Bild von Jurij und dessen Auszeichnungen

Ein Rahmen mit einem Bild von Jurij und dessen Auszeichnungen : Bild: Yulia Serdyukova

Manchmal, wenn sie nicht mehr weiterweiß, redet sie mit sich selbst, in den Worten, wie er immer zu ihr sprach. Das helfe ihr ein bisschen. Doch tief in sich drin spürt Nastja den Drang, selbst an die Front zu gehen. Das habe sie schon früher gefühlt, vor Jurijs Tod, sie hatten sich deshalb sogar gestritten. Doch mit der Zeit ist dieses Gefühl immer stärker geworden. Nicht nur aus Rache oder Ausweglosigkeit, sondern weil es der richtige Platz für sie sei.

„Aber dann höre ich seine Stimme in mir, dass ich Olenka nicht allein lassen kann.“ Das werde sie auch nicht, zumindest noch nicht. Denn sie erinnert sich an einen zweiten Satz, den Jurij zu ihr sagte: „Dieser Krieg wird noch lange dauern, und jeder wird seinen Moment haben.“

Source: faz.net