Lettische Romane in deutscher Übersetzung

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Menschen, Landschaften und Ge­schichten Lettlands, genauer: der alten Deutschordensprovinzen Livland und Kurland, könnten einer deutschen Leserschaft vertraut sein durch Eduard von Keyserling, Werner Bergengruen oder Siegfried von Vegesack, wenn deren Präsenz selbst nicht gegenwärtig langsam verblasste. Doch abseits der deutschbaltischen Literatur, die lange das Bild dieser Region dominiert hat, gab und gibt es auch eine eigene lettische Überlieferung, nicht erst seit 1918 beziehungsweise 1991, da Lettland – zwischenzeitlich sowjetisch okkupiert – als politisch unabhängiges Staatsgebilde existiert. Dass in letzter Zeit gleich mehrere Verlage lettische Bücher ins Deutsche übersetzen ließen, zeugt von sympathischem Mut und aufrichtigem Interesse am Baltikum.

Schon 2020 hatte der Berliner Guggolz Verlag mit „Straumēni“ von Edvarts Virza (1883 bis 1940) eine lettische Gegenerzählung zu den deutschbaltischen Schilderungen ländlichen Lebens vor dem Ersten Weltkrieg, etwa in Vegesacks „Baltischer Tragödie“, veröffentlicht. Dieses Prosapoem feiert ein naturnahes Wirtschaften auf einem Gehöft im Wandel der Jahreszeiten: eine Welt, die nach Kalmus und Kiefernharz duftet, in der man mit Tieren lebt, den Roggen auf der Tenne drischt und Zigeuner sich in Lehm einen Igel braten. Die Sprache Virzas, übersetzt von Berthold Forssman, hat den malerischen Glanz und die Intensität, wie sie der Däne Jens Peter Jacobsen besaß, nur dass Virzas sinnlicher Vitalismus kein Trotz aus Atheismus heraus (wie bei Jacobsen) ist, sondern eine eigene Form von Spiritualität. Für Virza ist der Dichter, wie er am Anfang schreibt, „beständig im Zwiegespräch mit dem Herrn“ und auch mit den Ahnen, denn er „kann die Sprache der Entschlafenen zum Erwachen bringen“.

Edvarts Virza: Straumēni (1933). Aus dem Lettischen und mit einem Nachwort von Berthold Forssman, 333 Seiten, € 25

Edvarts Virza: Straumēni (1933). Aus dem Lettischen und mit einem Nachwort von Berthold Forssman, 333 Seiten, € 25 : Bild: Guggolz Verlag

Man kann sich keinen größeren Kon­trast dazu vorstellen als den Jugend­roman „Jelgava 94“ von Jānis Joņevs, der 2013 entstand und jetzt bei der Kölner Parasitenpresse in der rührend tapsigen, ebenso pointierten wie herzerwärmenden Übersetzung von Bettina Bergmann auf Deutsch herausgekommen ist. Er erzählt vom Leben in der lettischen Provinz drei Jahre nach der wiedererlangten Unabhängigkeit von der Sowjetunion aus der Sicht eines halbwüchsigen Schülers, der zur Zeit des Freiheitskampfes seiner Eltern noch zu klein gewesen war, um die große Wirklichkeit zu begreifen, und jetzt mit Bandenkriminalität, Drogenhandel und Metal-Szene einer Welt ausgesetzt ist, die auch seine Eltern überfordert. Auf das „auch“ kommt es an, denn der Ich-Erzähler selbst stolpert ziem­lich unbeholfen durchs Leben und sieht sich – aus dem schreiberischen Abstand von fast zwanzig Jahren – mit gutmütiger Selbstironie dabei zu. Es fallen großartige Sätze wie: „Ich mochte ja alte Musik jeder Art ausgesprochen gern. Zum Beispiel die Beatles.“ Und die Einführung des neuen Fachs Sexualkunde in einer sowjetisch geprägten, völlig unterleibsverklemmten Schule ist von tränentreibender Komik. Man könnte „Jelgava 94“ einen Schelmenroman nennen, nur ist nicht der schüchterne, dünnhäutige Held in seiner Hilflosigkeit der Schelm, sondern der Autor, der aus diesem Helden erwuchs.

Die neueste und aufwendigste Ver­öffentlichung lettischer Literatur in deutscher Sprache kommt aus dem Mareverlag: „Das Bett mit dem goldenen Bein“, bereits 1984 in Sowjetlettland von Zigmunds Skujiņš (1926 bis 2022) herausgebracht, nun mit souveränem Humor und Lust an ländlicher Drastik ins Deutsche übersetzt von Nicole Nau, die auch hilfreiche Anmerkungen im Anhang beisteuert, die von Judith Leisters informativem Nachwort ergänzt werden.

Dort hatte sich schon der Baron Münchhausen herumgetrieben

„Das Bett mit dem goldenen Bein“ ist, wie der Untertitel sagt, die „Legende einer Familie“, und zwar der fiktiven Familie Vējagals aus dem livländischen Küstenstädtchen Zunte in der Grenz­region zwischen dem heutigen Lettland und Estland. Dieses Städtchen ist zwar ebenso fiktiv wie die Familie Vējagals, erinnert aber – wie Judith Leister gewitzt anmerkt – an den livländischen Ort Dunte, wo der echte Baron von Münchhausen anno 1744 Jacobine von Dunten geehelicht und mit ihr daselbst bis 1750 zu leben geruht hatte. Der Anklang daran mag ein Wink von Skujiņš sein, dass sich in seiner „Legende einer Familie“ vom siebzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert Fakten und Fiktionen munter mischen wie in einer Münchhauseniade.

Jānis Joņevs: „Jelgava 94“. Roman. Aus dem Lettischen von Bettina Bergmann. Parasitenpresse, Köln 2022. 330 S., br., 18,– €.

Jānis Joņevs: „Jelgava 94“. Roman. Aus dem Lettischen von Bettina Bergmann. Parasitenpresse, Köln 2022. 330 S., br., 18,– €. : Bild: Parasitenpresse Verlag

Schon der kunstvolle erste Satz des Romans ist in Syntax und Inhalt eine Re­flexion des wesentlichen Vorgangs im Buch. Er veranschaulicht das langsame Durchsickern vergessener oder gar politisch verdrängter Überlieferung: „Da­mals, als wir, die wir dem Stamm der Vējagali fester oder loser verwandtschaftlich verbandelt sind, von der Nachricht überrascht wurden, das Noass’ Gold tatsächlich aufgetaucht war, sickerten nun viele Legenden, die Vējagalis Großmütter, manchmal auch die Großväter, von Generation zu Generation weiter­gegeben hatten, durch Schichten von Gleichgültigkeit.“ Der erwähnte Noass war ein Seefahrer aus Zunte, der im späten neunzehnten Jahrhundert auf den Meeren der Welt – „Yokohama, Alabama!“, lautete sein Lieblingsfluch – reich geworden, aber bei seinem Tod einsam im prächtigen Stadthaus zurückgeblieben war. Es hieß, er hätte sein ganzes Gold in einem Bein seines Bettes versteckt, mit dem er begraben worden sei. Doch viele Grabungen, beharrlich angestrengt von seiner Tochter Leontīne, führten zu keinem Fund.

Das reicht vom Dreißigjährigen Krieg bis in die Sowjetunion

So immens die Besessenheit einzelner Familienmitglieder auch sein mag, den Schatz des Noass zu finden, so unwesentlich ist dessen Rolle in der Familienchronik, die am Beispiel lauter Einzelschicksale von Bauern, Seefahrern, Ärzten und Bildhauern ein Panorama lettischer Ge­schichte von der schwedischen Besatzung nach dem Dreißigjährigen Krieg über das russische Zarenreich, die erste Unabhängigkeit nach 1918, die wechselnde Besatzung durch Stalin und Hitler bis in die letzten Jahre Sowjetzeit entwirft. Das Ende der Leibeigenschaft wird ebenso be­rührt wie die Zerteilung der Ostseeprovinz Livland durch die neuen Nationalstaaten Estland und Lettland samt einer tragischen Liebesbeziehung zwischen dem estnischen Kapitän Vello und der Lettin Leontīne.

Zigmunds Skujiņš: „Das Bett mit dem goldenen Bein“. Roman. Aus dem Lettischen von Nicole Lau. Mareverlag, Hamburg 2022. 608 S., geb. im Schuber, 48,– €.

Zigmunds Skujiņš: „Das Bett mit dem goldenen Bein“. Roman. Aus dem Lettischen von Nicole Lau. Mareverlag, Hamburg 2022. 608 S., geb. im Schuber, 48,– €. : Bild: Mareverlag

Im Zweiten Weltkrieg stehen sich Cousin und Cousine, die Pistolenläufe auf­einander gerichtet, als Kriegsgegner gegenüber: er aufseiten der Waffen-SS, sie als Partisanin der Roten Armee. Beide brechen in Tränen aus und können nicht aufeinander schießen. Letten wie Esten berichten allesamt von solch doppelten Loyalitäten, die ihre Familien zerrissen. Gleichzeitig beginnt Vilma, die als erste Frau die Leitung der Stadtbibliothek übernimmt, eine Liebesbeziehung mit dem schüchternen Wehrmachtssoldaten Willi, die sie über Jahre geheimhalten, bis beide darin unglücklich verblühen.

Doch der Ton des Romans, der angesichts seiner Entstehungszeit kurz vor Perestroika und Glasnost erstaunlich mutig die Lebenswirklichkeit in Lettland beschreibt, ist nicht auf Wehmut gestimmt. Er ist auch kein Verfallsroman wie Herman Bangs „Hoffnungslose Geschlechter“ oder Thomas Manns „Buddenbrooks“, sondern eher ein Fest wildwüchsigen Aufblühens: Prokreation statt Dekadenz. Erbe bewahrt sich bei den Vējagals dadurch, dass nicht auf Traditionsnachfolge gedrungen wird, sondern man dem Leben seinen Lauf lässt.

Jedes neugeborene Kind bringt mit seinen Begabungen etwas Unvorhergesehenes in diese Familie und damit eine Zu­kunftsoffenheit, die das Überleben sichert. Die Akzeptanz alles dessen sorgt für tiefe Heiterkeit. Der kleine Paulis etwa spricht schon als Kind mit Bäumen, Tieren und Eimern, sitzt nachts auf dem Dach und zählt Sterne, singt, spielt Geige und wählt sich als Lebensmotto: „Alles, was sich bewegt, braucht Herzlichkeit“. Sein Vater Augusts nimmt sogar das neugeborene Kind einer sterbenden Flüchtlingsfrau „mit einem philosophischen Wohlwollen“ auf und mit dem Satz: „Sie hat etwas von den Vējagali. Kommt zu Unzeiten auf die Welt und bleibt am Leben.“ Jenseits völkischer, nationaler oder restaurativer Ideologien ist Zigmunds Skujiņš hier ein humorvolles und sympathisches Vielgenerationenporträt der Letten in ganz goldiger Größe geglückt.

Jānis Joņevs: „Jelgava 94“. Roman. Aus dem Lettischen von Bettina Bergmann. Parasitenpresse, Köln 2022. 330 S., br., 18,– €.

Zigmunds Skujiņš: „Das Bett mit dem goldenen Bein“. Roman. Aus dem Lettischen von Nicole Lau. Mareverlag, Hamburg 2022. 608 S., geb. im Schuber, 48,– €.

Source: faz.net