Wolodymyr Selenskyj: Das Gesicht des Freiheitskampfes der Ukraine

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Der Wunsch war ungewöhnlich, und die Reaktion darauf fiel ebenfalls aus dem Rahmen des üblichen. Während der Pressekonferenz des britischen Premierministers Rishi Sunak und des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in einem britischen Militärstützpunkt im südenglischen Dorset am 8. Februar beginnt eine Journalistin des ukrainischen Dienstes der BBC ihre Frage mit einem Dank an den ukrainischen Präsidenten. „Ich würde Sie gerne umarmen, aber das geht nicht“, sagt sie dann. „Warum?“ fragt Selenskyj und verlässt sein Rednerpult. Unter dem Beifall und dem Lachen des Saales geht er auf die Journalistin zu und umarmt sie.

Ein Jahr zuvor wäre eine solche Szene nicht denkbar gewesen. Das lag nicht an Selenskyj. Er ist seit seinen ersten Schritten in der Politik immer wieder auf ähnliche Weise aus dem Protokoll ausgebrochen. Als Staatsoberhaupt hat Selenskyj den schnodderigen Ton beibehalten, mit dem er in der Fernsehserie „Diener des Volkes“ einen zufällig zum Präsidenten gewählten Lehrer spielte, der gegen all die Konventionen aufbegehrt, mit denen die Strippenzieher hinter den Kulissen ihm Fesseln anlegen wollen.

Doch die ukrainischen Journalisten waren nie auf Kuschelkurs mit den Mächtigen. Sie haben ihnen für nichts gedankt, sondern ihr Handeln in Frage gestellt; sie haben sie nicht umarmt, sondern auf korrupte Interessen durchleuchtet.

Selenskyj ist im westlichen Ausland zum Star geworden

Die Umarmung von Dorset ist einer der Augenblicke, an denen sichtbar wird, wie der russische Überfall das Verhältnis der Ukrainer zu ihrem Staat und seinen Vertretern radikal verändert hat. Das lässt sich auch in Zahlen ausdrücken. Umfragen sind unter Kriegsbedingungen zwar mit großer Vorsicht zu betrachten. Aber der Trend, den die Demoskopen in der Ukraine registrieren, ist eindeutig: Das Vertrauen in alle staatlichen Institutionen ist um ein Vielfaches größer als vor einem Jahr. Und Selenskyj ist die Personifizierung dieser Entwicklung. Als Meinungsforscher im Herbst vorigen Jahres nach den herausragendsten Figuren der ukrainischen Geschichte fragten, landete Selenskyj auf Platz zwei hinter dem Nationaldichter Taras Schewtschenko, von dem in fast allen ukrainischen Städten ein Denkmal steht.

Die Bilder des bärtigen Mannes im olivgrünen Sweatshirt sind zu Ikonen des Widerstands der Ukrainer gegen die russische Aggression geworden: Selenskyj bei seinen allabendlichen Videoansprachen in seinem Büro, Selenskyj auf Großbildschirmen in den Plenarsälen von Parlamenten in aller Welt, Selenskyj, der vor dem Präsidentenpalast in Kiew formell gekleidete Besucher begrüßt, Selenskyj, der im amerikanischen Kongress eine von ukrainischen Frontkämpfern unterzeichnete Fahne überreicht – und vor allem Selenskyj inmitten von Soldaten in Butscha, Isjum, Cherson oder Bachmut.

Die äußerliche Veränderung Selenskyjs spiegelt in den Augen vieler Betrachter wieder, was die Ukraine erlebt: In dem noch am Vorabend des Krieges jungenhaft wirkenden Gesicht zeigen sich tiefe Falten, unter den Augen sind oft dunkle Ringe. So ist Selenskyj auch im westlichen Ausland zu einem politischen Star geworden. Die Regierungschefs von EU- und NATO-Staaten legen Wert darauf, sich mit ihm zeigen zu können; Parlamentarier in Europa und Nordamerika applaudieren ihm für seine Reden so ausdauernd, wie sie es bei keinem Politiker aus ihren eigenen Ländern tun würden.

Ein gern gesehener Gast: Selenskyj erhält von Nancy Pelosi eine amerikanische Fahne

Ein gern gesehener Gast: Selenskyj erhält von Nancy Pelosi eine amerikanische Fahne : Bild: AP

Putin „hat gedacht, Autokraten wie er sind hart und die Führer von Demokratien weich“, sagte der amerikanische Präsident Joe Biden am Dienstag in Warschau. „Er fand sich im Krieg mit einer Nation, die von einem Mann geführt wird, dessen Mut in Feuer und Stahl geschmiedet wurde: Präsident Selenskyj.“ Der stürmische Beifall für diesen Satz verdeckt, dass bis zum russischen Überfall auf die Ukraine ein ganz anderes Bild von Selenskyj weit verbreitet war: Viele in der ukrainischen Opposition und im Westen sahen in ihm auch nach fast drei Jahren im Amt noch den politisch unerfahrenen Schauspieler, der einmal einen Präsidenten gespielt hatte.

Selenskyj konnte seine Wahlversprechen nicht einhalten

In den Tagen vor dem russischen Angriff kritisierten die Opposition und große Teile der ukrainischen Zivilgesellschaft den Präsidenten: Er reagiere zu zurückhaltend auf den Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze; seine Mahnungen zu Ruhe wiegten die Menschen in falscher Sicherheit, mit der Aufstellung der Territorialverteidigung sei zu spät begonnen, die Armee sei nicht ausreichend gestärkt worden.

Hinter Selenskyj als Symbol für den Kampf seines Landes beginnt der frühere Politiker Selenskyj zu verschwinden. Für den waren die Monate vor dem russischen Überfall nicht gut gelaufen. Sein wichtigstes Wahlversprechen, rasch eine Verhandlungslösung für den Krieg im Donbass zu finden, war an Moskau gescheitert. Sein Wille, wirklich ernsthaft gegen die Korruption in der Ukraine vorzugehen, wurde aus der ukrainischen Zivilgesellschaft lautstark bezweifelt. Die bequeme Mehrheit seiner Partei „Diener des Volkes“ im Parlament war in politschen Häutungen, Streitereien und Affären verloren gegangen.

Selenskyj steckte knietief im Sumpf der ukrainischen Innenpolitik, in dem seit der Revolution 2014 sowohl echte Reformkräfte als auch Verteidiger oligarchischer Strukturen unter den Bannern von Korruptionsbekämpfung und Rechtsstaatlichkeit antreten. Wer da für was steht, ist oft schwer auseinanderzuhalten. Begierig stürzten sich die ukrainischen Medien deshalb auf die Widersprüchlichkeiten in dem von ihm ausgerufenen „Krieg gegen die Oligarchen“ und durchwühlten die Vermögenserklärungen seiner Weggefährten und Mitarbeiter auf Ungereimtheiten. In Umfragen lag Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ Anfang 2022 hinter der seines Vorgängers Petro Poroschenko, obwohl dieser noch immer so unbeliebt war wie bei seiner Niederlage gegen Selenskyj in der Präsidentenwahl im Frühjahr 2019. Auch von Selenskyjs eigener Popularität war Anfang 2022 nicht mehr viel übrig. Gewählt worden war er mit 73 Prozent der Stimmen, nun wurde er nur noch von etwa einem Viertel der Ukrainer unterstützt.

Wolodymyr Selenskyjs öffentliche Verwandlung vom umstrittenen Präsidenten zum unumstrittenen Anführer beginnt am frühen Morgen des 24. Februar 2022 mit einem eine Minute und sechs Sekunden langen Video, das er allem Anschein nach selbst in seinem Büro mit dem Telefon aufgenommen hat. Selenskyj ist unrasiert, trägt noch weißes Hemd und Sakko, aber nicht mehr die Krawatte, die er bei seiner letzten Ansprache kurz vor Mitternacht anhatte. Er verkündet die Einführung des Kriegszustands und bittet die Bürger um Ruhe. „Wir arbeiten, die Armee arbeitet“, versichert Selenskyj. Er kündigt an, dass er die Bevölkerung ständig auf dem laufenden halten werde: „Ohne Panik, wir sind stark, wir sind zu allem bereit, wir werden alle besiegen, denn wir sind die Ukraine. Ruhm der Ukraine!“

Ein Video zum Beweis: Selenskyj filmt sich nach Beginn der Invasion im Zentrum von Kiew

Ein Video zum Beweis: Selenskyj filmt sich nach Beginn der Invasion im Zentrum von Kiew : Bild: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Im Abstand von wenigen Stunden tritt Selenskyj in den ersten Kriegstagen – nun schon im olivgrünen T-Shirt – vor die Kamera und informiert über die aktuelle Lage. Als von russischer Seite das Gerücht gestreut wird, Selenskyj sei auf der Flucht und habe die ukrainischen Soldaten aufgefordert, die Waffen niederzulegen, veröffentlicht er zwei kurze Selfievideos, die belegen, dass er im Zentrum von Kiew ist, während am Stadtrand heftige Kämpfe toben. Das erste zeigt ihn am Abend des zweiten Tages mit dem Ministerpräsidenten und seinen wichtigsten Beratern vor dem Amtssitz des Präsidenten – einem Ort, den in der Ukraine jeder erkennt, der schon einmal Fernsehnachrichten gesehen hat. „Wir alle sind da. Die Armee ist da. Die Zivilgesellschaft ist da. Wir verteidigen unsere Unabhängigkeit“, sagt er. Am nächsten Morgen wiederholt Selenskyj seine Botschaft auf dem selben Platz: „Ich bin hier, wir legen keine Waffen nieder, wir verteidigen unseren Staat.“

Früher trat Selenskyj auch im russischen Fernsehen auf

Er war entscheidend“, sagt Serhij Leschtschenko. „Indem er in Kiew blieb, gab er ein Beispiel des Mutes, denn vom ersten Tag an war er für Putins Armee das Ziel Nummer eins.“ Vor der Revolution 2014 war Leschtschenko einer der führenden investigativen Journalisten der Ukraine, nach dem Sturz des autoritären Regimes war er vier Jahre Parlamentsabgeordneter. Er war einer der wenigen aus dem Lager der radikalen Reformer, die nicht mit Misstrauen und Ablehnung reagierten, als Selenskyj in die Politik ging. Die meisten von Leschtschenkos einstigen Mitstreitern sahen in Selenskyj das „Projekt“ eines Oligarchen und verdächtigten ihn heimlicher Sympathien für Russland – schließlich war er als Entertainer noch Anfang der zehner Jahre in den großen Shows des russischen Staatsfernsehens aufgetreten.

Leschtschenko aber unterstützte Selenskyjs Präsidentschaftskandidatur von Anfang an aktiv. „Er war ein Game Changer“, sagt er. Die Wahl Selenskyjs zum Präsidenten sei ein Bruch mit der Art von Politik gewesen, die für die Ukraine in den ersten drei Jahrzehnten der Unabhängigkeit bestimmend war: „Er hat die Türen für eine neue Generation geöffnet.“ Für ihn, sagt Leschtschenko, sei es keine Überraschung gewesen, dass Selenskyj trotz der Bedrohung für sein eigenes Leben und der Angebote westlicher Regierungen, ihn aus Kiew zu holen, in der Hauptstadt geblieben ist: „Viele haben deshalb ihre Ansichten über ihn geändert. Ich nicht, ich wusste von Anfang an, dass er nicht gehen wird.“

Regelmäßige Besuche an der Front: Selenskyj zeigt sich mit Soldaten nach der Rückeroberung Isjums

Regelmäßige Besuche an der Front: Selenskyj zeigt sich mit Soldaten nach der Rückeroberung Isjums : Bild: Reuters

Der Parlamentarier Serhij Rachmanin war als Vorsitzender Fraktion der liberalen Partei Holos („Stimme“) dabei, als Selenskyj am Morgen des 24. Februar vor der Verhängung des Kriegszustands mit den Parteiführern sprach. Mitte Januar hat er in einem langen Interview mit der „Ukrainska Prawda“ seine Eindrücke von diesem Treffen geschildert. Selenskyjs Auftreten habe ihm persönlich imponiert, sagte Rachmanin: „Ich habe keine Angst gespürt und gesehen.“ Und das habe nichts mit den Fähigkeiten Selenskyjs als Schauspieler zu tun: „Das war nicht die Situation, in der man etwas vorspielen kann.“ Er habe den Eindruck gehabt, „dass die Verantwortung, die da auf seine Schultern fiel, ihn fast physisch niedergedrückt hat.“ Aber „er war konzentriert und wirkte so starrköpfig.“

Korruptionsaffären sorgten für Entrüstung

Rachmanin gehörte vor dem Krieg zu den scharfen Kritikern Selenskyjs. Als der schon anderthalb Jahre im Amt war, warf Rachmanin ihm vor, nicht wirklich zu verstehen, wie der Staat funktioniere: „Womit er sich beschäftigen muss, fing ihm erst dann an klar zu werden, als er schon gewählt war“, sagte Rachmanin Ende 2020. Für ein Land in einer so schwierigen Lage wie die Ukraine sei das „ein zu großer Luxus“. Von dieser Kritik lässt Rachmanin auch fast ein Jahr nach dem russischen Überfall nicht ab. Vor dem Krieg habe Selenskyj „nicht die ganze Verantwortung gefühlt, die auf dem Präsidenten dieses Staates liegt“, sagte er in dem Interview der „Ukrainska Prawda“ – das habe sich erst im Moment des russischen Überfall geändert. Rachmanin hat auch Zweifel, ob Selenskyj der richtige Präsident für die Zeit nach dem Krieg ist. Doch jetzt „wird er seinem Amt gerecht“. Hätte Selenskyj „diesem Schlag nicht standgehalten, dann wäre das Regierungssystem nicht so stabil, wie es ist“, sagt Rachmanin.

Doch selbst im Krieg treten manchmal jene Züge der ukrainischen Politik an die Oberfläche, wegen denen die ukrainische Opposition Selenskyj früher scharf attackiert hat. Das erste Mal geschah das im Sommer vorigen Jahres, als Selenskyj die Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa und den Geheimdienstchef Iwan Bakanow entließ. Beide waren aus Sicht der Opposition und vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen von Anfang an Fehlbesetzungen. Aber die Art, wie Selenskyj am Parlament vorbei ihre Nachfolge zu regeln versuchte, rief scharfe Kritik hervor. In den Berichten der ukrainischen Medien ging es wieder wie früher darum, wer wessen Verbündeter in den Korridoren der Macht ist, wer die Bekämpfung der Korruption behindert und wer welche Reformen in der Justiz und im Geheimdienst zu blockieren versucht.

Das war indes nur ein lauer Wind im Vergleich zu den Affären, auf die Selenskyj Ende Januar reagieren musste, während gleichzeitig die Berichte von der Front um Bachmut immer dramatischer wurden. Fälle von Korruption in der Fraktion von „Diener des Volkes“, in Regionalverwaltungen, der Präsidialverwaltung, dem Infrastrukturministerium und – was am schlimmsten war – im Verteidigungsministerium riefen in der Ukraine einen Aufschrei der Entrüstung hervor. Selenskyj reagierte schnell: Alle Verdächtigen wurden innerhalb weniger Tage entlassen, es gab mehrere Festnahmen.

Jermak macht für Selenskyj die Drecksarbeit

Im Hintergrund wirkte dabei der Chef der Präsidialkanzlei Andrij Jermak, der nach Ansicht ukrainischer Beobachter so viel Macht hat wie niemand zuvor in dieser Position in den drei Jahrzehnten Unabhängigkeit in der Ukraine. Die Anwesenheit des Juristen und früheren Filmproduzenten in der nächsten Umgebung des Präsidenten ist einer der Gründe für das Misstrauen vieler Reformer gegenüber dem Präsidenten. Ukrainische Medien berichten, er sorge auch jetzt dafür, dass in dem „Fernsehmarathon“, in dem alle Sender seit Beginn der Invasion zusammengeschlossen sind, neben Selenskyj niemandes Licht zu hell leuchtet.

Der Mann, der für Selenskyj die Schmutzarbeit macht, ist vermutlich das unbeliebteste Mitglied der ukrainischen Führung. Aber er ermöglicht es dem Präsidenten, über den Niederungen der Tagespolitik zu stehen. In seinen abendlichen Ansprachen ging Selenskyj an mehreren Tagen auf die Korruptionaffären ein. Er dankte Journalisten, die über die Fälle berichtet hatten, für ihre Arbeit, und sagte, die Gesellschaft habe einen Anspruch auf Transparenz: „Gerechtigkeit ist eines der Fundamente für unseren Zusammenhalt.“

Gezeichnet vom Krieg: Selenskyj spricht in Butscha mit Medienvertretern

Gezeichnet vom Krieg: Selenskyj spricht in Butscha mit Medienvertretern : Bild: AFP

„So lange er so reagiert, schaden ihm solche Fälle nicht“, sagt Halyna Jantschenko. Die 34 Jahre alte Abgeordnete gehört zu denjenigen, denen Selenskyj den Weg in die Politik geebnet hat. Kritik an Selenskyj bekommt man von ihr nicht zu hören – obwohl sie Ende vorigen Jahres unter Protest gegen ein von der Fraktionsführung vorangetriebenes und vom Präsidenten später unterzeichnetes Gesetz aus seiner Partei ausgetreten ist. „Er inspiriert die Ukrainer auf allen Ebenen“, sagt Halyna Jantschenko. „Selenskyj spricht alle an: die ukrainische Gesellschaft, das Militär, die ausländischen Politiker“, sagt Jantschenko. Er habe ein Gespür für die Gesellschaft, mit seinen täglichen Ansprachen halte er die Einigkeit zwischen den gesellschaftlichen Schichten, zwischen den Regionen, zwischen den Menschen im Land und den Ukrainern im Ausland aufrecht. „Wenn Raketen auf uns fliegen, dann geht es auch um die Gefühle der Menschen“, sagt sie. „Ohne ihn würden viele auf der Welt nicht darauf reagieren, dass wir mitten in Europa getötet werden.“

Selenskyj hat ein gutes Gespür für Symbole

In seinen Reden vor ausländischem Publikum und seinen Appellen an westliche Staatsführer balanciert Selenskyj auf einem schmalen Grat zwischen dem Werben um Unterstützung, Vorhaltungen, dass die Hilfe zu spät und nicht ausreichend kommt, und Appellen an das eigene Interesse des Westens. Davon war schon seine letzte Rede gekennzeichnet, die er auf internationalem Parkett noch in Anzug und Krawatte hielt: „Wir werden unser Land mit oder ohne Unterstützung von Partnern verteidigen. Ob sie uns Hunderte moderne Waffen geben oder fünftausend Helme“, sagte er fünf Tage vor Beginn der russischen Invasion auf der Münchner Sicherheitskonferenz. „Wir wissen jede Hilfe zu schätzen, aber jeder sollte wissen, dass das keine wohltätigen Beiträge sind, um die die Ukraine bitten und an die sie erinnern sollte.“

Diesen Gedanken hat Selenskyj seither in Reden vor nationalen Parlamenten und bei internationalen Begegnungen viele Male variiert. „Ihr Geld ist keine Wohltätigkeit. Es ist eine Investition in die globale Sicherheit und Demokratie, mit der wir auf verantwortlichste Weise umgehen“, sagte Selenskyj am 22. Dezember auf seiner ersten Auslandsreise seit der Invasion vor dem Kongress in Washington. Die Rede vor den beiden Kammern des amerikanischen Parlaments enthielt alles, was die Wirkung von Selenskyjs Auftritten ausmacht. Er kommt seinem Publikum entgegen, indem er an Ereignisse aus dessen eigener Geschichte erinnert. In Washington sagte er, der Kampf um Bachmut könne „in unserem Krieg für Unabhängigkeit und Freiheit“ ebenso entscheidend werden wie die Schlacht von Saratoga, die im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg im 18. Jahrhundert die Wende zugunsten der Vereinigten Staaten brachte.

Selenskyj stellt eine Verbindung zwischen Politik und Alltag her, um an die Gefühle seiner Zuhörer zu appellieren: „In zwei Tagen werden wir Weihnachten feiern. Vielleicht mit Kerzenlicht. Nicht weil es romantischer ist. Sondern weil es keinen Strom geben wird. Millionen haben weder Heizung noch warmes Wasser“, sagte er in Washington – und dankte „jeder amerikanischen Familie, die die Wärme ihres Zuhauses schätzt und anderen Menschen die gleiche Wärme wünscht“. Das ist das Werk von Selenskyjs Redenschreibern – aber es ist sein in zwanzig Jahren Schauspielkarriere entwickeltes Gespür für Gesten, Symbole und die Reaktion des Publikums, mit dem er seine Zuhörer in der Ukraine und im Ausland einfängt.

Source: faz.net