„Nachfrage nach Therapieplätzen ist in der Stadt besonders hoch“

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In der Corona-Pandemie stieg laut Psychotherapeutenkammer Hamburg die Nachfrage nach Therapien stark an, insbesondere für Kinder und Jugendliche gab es nicht ausreichend Plätze. Die Kammerpräsidentin Heike Peper drängt nun darauf, der nach wie vor schwierigen Situation auch durch Gruppenangebote besser zu begegnen. Bei der Behandlung von Zwangsstörungen kommt ein Kostenproblem hinzu.

WELT AM SONNTAG: Eine Umfrage von Ihnen unter Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen und -therapeuten im Frühjahr 2022 zeigte, dass sich die Nachfrage nach psychotherapeutischen Angeboten während der Corona-Pandemie um mehr als 40 Prozent erhöht und die Wartezeiten im Durchschnitt um 17 Wochen verlängert haben. Vor allem Depressionen und Ängste, aber auch Essstörungen, Zwangsstörungen und erhöhter Medienkonsum nahmen demnach zu. Hat sich an der Situation mittlerweile etwas verändert?

Heike Peper: Die Pandemie war eine Dauerbelastung vor allem für Kinder und Jugendliche, die nicht in die Schule konnten, deren Freizeitangebote stark eingeschränkt waren und die über lange Zeiträume keine Freunde treffen durften. Kurzzeitige Stresssituationen sind meist zu verarbeiten, wenn es danach wie gewohnt weiter geht. In den vergangenen drei Jahren aber gab es keine Sicherheiten, kaum Aussicht auf Normalität. Es war also absehbar, dass es bei jungen Menschen und Erwachsenen, die keine guten stabilisierenden Faktoren in ihrem Leben haben oder ohnehin schon seelisch belastet waren, zu ernst zu nehmenden Folgen kommen wird. Unsere Umfrage bestätigte diese Vermutung. Insbesondere Jugendliche kamen neu in unsere Praxen. Starke Verunsicherungen in der Krise mündeten bei manchen in Angststörungen und Depressionen. Zwangsstörungen sind für Betroffene eine Form von Wiedererlangen von Kontrolle in solch unsicheren Zeiten. Auch dieses Thema wurde präsenter, Zwänge stärker und es gibt wohl auch immer mehr Betroffene.

WELT AM SONNTAG: Die Psychotherapeutenkammer Hamburg forderte angesichts dieser Entwicklung, dass sowohl präventive und niedrigschwellige psychosoziale Angebote ausgebaut als auch zusätzliche psychotherapeutische Behandlungskapazitäten geschaffen werden. Hat sich schon genug getan?

Peper: Immerhin: Der Hamburger Senat hat kürzlich die Haushaltsmittel für die Kinder- und Jugendhilfe aufgestockt. Das ist begrüßenswert, denn es ist wichtig zu verhindern, dass aus seelischen Belastungen psychische Erkrankungen werden. Präventive Angebote zu schaffen und zu fördern ist enorm wichtig. Auch im schulischen Bereich muss mehr getan werden, um beispielsweise Kinder mit Lernrückständen und Entwicklungsdefiziten aufzufangen. Weil wir nicht genügend psychotherapeutische Angebote in Hamburg haben, wären zum Beispiel zeitlich begrenzte Gruppenangebote für Kinder und Jugendliche eine gute zusätzliche Möglichkeit, um rechtzeitig auf Probleme einzugehen.

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WELT AM SONNTAG: Bei psychotherapeutischen Angeboten für Erwachsene herrscht ebenfalls ein Mangel. Menschen mit Depressionen telefonieren zum Teil wochenlang Praxen ab auf der Suche nach einem Therapieplatz. Laut Bundespsychotherapeutenkammer dauert es durchschnittlich 142,4 Tage vom obligatorischen Erstgespräch bis zum Therapiebeginn. Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Schon vor Pandemiebeginn hatten Sie ja auf eine Reform der Bedarfsplanung gedrängt.

Peper: Ausgebildet wird genug, daran liegt es nicht: Allein in Hamburg schließen an den verschiedenen Instituten jährlich rund 100 Absolventinnen und Absolventen ab. Laut der bundesweit geltenden Bedarfsplanungsrichtlinie haben wir in Hamburg nominell sogar eine Überversorgung mit psychotherapeutischen Praxen in Höhe von 160 Prozent. Die Richtlinie wurde allerdings vor 20 Jahren auf Grundlage einer eigentlich falschen und längst überholten Logik erlassen. Weil jedoch die Zahl der Kassensitze dadurch gedeckelt ist, lassen sich viele Kolleginnen und Kollegen erst einmal in Privatpraxen nieder oder teilen sich einen sogenannten Versorgungsauftrag.

WELT AM SONNTAG: Es ist also nicht so, dass Hamburg besonders streng bei der Anerkennung der erforderlichen Abschlüsse ist?

Peper: Wir befinden wir uns da gerade in einer Übergangszeit: Der bisherige Weg mit Psychologiestudium plus Psychotherapieausbildung soll an die fachärztliche Weiterbildung angeglichen werden. Seit der Bologna-Reform ist fraglich, welche Bachelor- und Masterstudiengänge den vorigen nötigen Diplom-Studiengängen entsprechen. Deshalb guckt das Landesprüfungsamt für Heilberufe im Zweifelsfall sehr genau, ob die erforderlichen Inhalte tatsächlich studiert wurden. Künftig soll für alle Heilberufe gelten, dass das Studium mit der Approbation abschließt und mit einer fachpsychotherapeutischen Weiterbildung ergänzt wird. Die Psychotherapeutenreform ist im September 2020 mit einer zwölfjährigen Übergangsfrist in Kraft getreten, die ersten Absolventen in Hamburg werden wohl diesen Herbst fertig.

WELT AM SONNTAG: Nun scheint es beispielsweise bei Zwangsstörungen schwierig zu sein, Verhaltenstherapeuten zu finden, die sich mit den Betroffenen auch in die Situationen begeben – was für den Behandlungserfolg aber mitunter nötig wäre.

Peper: Grundsätzlich ist es so, dass alle therapeutischen Verfahren, die zur Behandlung von gesetzlich Versicherten zugelassen sind, auch für den gesamten Indikationsbereich passen. Aber natürlich sind für die Patientinnen und Patienten bestimmte Therapieverfahren eventuell passender und hilfreicher. Verhaltenstherapeutische Methoden wie die genannte Expositionshandlung sind sehr aufwändig. In der Zeit, die man mit dem einen Patienten verbringt, könnte man stattdessen auch mehrere Patienten behandeln. Die Vergütung für einen Hausbesuch ist mit 24 Euro einfach zu gering. Das ist ein großes Problem, auch bei pflegebedürftigen Menschen, die es überhaupt nicht in die Praxen schaffen. Hausbesuche müssten viel besser vergütet werden, denn auf der anderen Seite sind die Praxiskosten gerade in einer Stadt wie Hamburg hoch.

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WELT AM SONNTAG: Mit Blick auf die demografische Entwicklung dürfte dieses Problem in den nächsten Jahren noch dringlicher werden.

Peper: Absolut, da gibt es schon jetzt ein Dilemma: Ältere Menschen bekommen überdurchschnittlich oft Psychopharmaka verschrieben. Unserer Ansicht nach wäre es in sehr vielen Fällen sinnvoll, stattdessen oder mindestens begleitend psychotherapeutische Hilfe anzubieten. Aber das ist nicht zu leisten.

WELT AM SONNTAG: Beobachten Sie in Hamburg weitere spezifische Entwicklungen in Bezug auf psychische Erkrankungen und deren Therapie?

Peper: In Hamburg sind bestimmte Branchen ansässig, in denen besonders viele Menschen betroffen sind. Wir haben hier zum Beispiel viele im Gesundheitsbereich tätige Personen. Durch ihren hohen Ethos und die Arbeitsbelastung mit Schichtdiensten und Fachkräftemangel sind sie eine besonders vulnerable Berufsgruppe. Bei diesen Patientinnen und Patienten beobachten wir besonders oft Erschöpfungszustände, Burnout und damit verbundene seelische Erkrankungen. Auch die Dienstleistungsbranche ist eher betroffen als andere – Arbeitszeiten wie in der Gastronomie sind auf Dauer herausfordernd und können psychische Erkrankungen begünstigen. Für die Großstadt ist zudem das soziale Gefüge speziell – Einsamkeit und Nicht-Zugehörigkeit sind hier sehr präsente Themen, belastende Familienkonstellationen tragen ebenso dazu bei, dass die Nachfrage nach Therapieplätzen in der Stadt besonders hoch ist.

WELT AM SONNTAG: Um einen schnelleren Behandlungsstart zu ermöglichen, hatten Sie unter anderem vorgeschlagen, dass gesetzliche Krankenversicherungen unbürokratisch Kosten erstatten sollen auch für außervertragliche Psychotherapien in Privatpraxen…

Peper: Bei dem Thema gestalten sich die Gespräche mit den Krankenkassen schwierig. Früher mussten diese die Zahl der Kostenerstattungen veröffentlichen, aber seit sie das nicht mehr müssen, tun sie es auch nicht mehr. Insofern wissen wir auch nicht genau, wie hoch der Bedarf ist, denn den konnte man ganz gut davon ableiten. Grundsätzlich gilt: Krankenversicherte haben nach dem Sozialgesetzbuch ein Recht auf Behandlung. Wenn sie diese in einer kassenärztlichen Praxis nicht bekommen, weil es zu wenige Plätze gibt, müssen sie eben an anderer Stelle, zum Beispiel in einer Privatpraxis, behandelt werden und dies finanziert bekommen. Natürlich sind psychisch belastete Menschen oft nicht in der Lage, sich im Zweifelsfall auch noch mit der Krankenkasse zu streiten und auf diesem Recht zu bestehen. Sowas ist ja schon schwierig, wenn man einigermaßen stabil ist.

WELT AM SONNTAG: Was wäre denn nötig, um eine für alle bessere Situation in der Stadt zu schaffen?

Peper: Wir fordern eine eigene Bedarfsplanung für Kinder und Jugendliche – auch, damit es mehr wohnortnahe Angebote in allen Stadtteilen gibt. Zudem muss die Richtlinie auf Bundesebene endlich reformiert werden. Das ist ein dickes Brett. Und schließlich sollte die Prävention weiter gestärkt werden: Es muss mehr frühzeitige Angebote geben, um Belastungen aufzufangen und Erkrankungen oder Chronifizierungen zu verhindern. Letzteres hat gar nicht immer unbedingt mit Psychotherapie zu tun, da geht es auch um Arbeits- und Lebensbedingungen, Wertschätzung, Unterstützung, finanzielle Absicherung. Wenn Menschen in Erwerbsfähigkeit bleiben können, zahlt sich das am Ende auch gesellschaftlich aus.

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Source: welt.de