ISW-Analyse: Putins neue “Informationsoperation”, um seinen Krieg zu rechtfertigen

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ISW-Analyse Putins neue “Informationsoperation”, um seinen Krieg zu rechtfertigen

Russlands Präsident Wladimir Putin

Russlands Präsident Wladimir Putin

© The Kremlin Moscow/ / Picture Alliance

Präsident Wladimir Putin hat wiederholt versucht, seinen Krieg in der Ukraine zu rechtfertigen. Nun führt er eine neue Mär ins Feld. 

Nun sei also die Existenz Russlands bedroht. Wladimir Putin und dessen Gefolgschaft verbreiten abermals eine schwindelerregende Erzählung, die den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine rechtfertigen und relativieren soll, offenkundig in dem Bestreben, das Narrativ im nunmehr ein Jahr andauernden Feldzug gegen das Nachbarland weiter zu verschieben.

Dem fragwürdigen Untergangsszenario, das der russische Präsident nun zeichnet, dürften zwei Ziele zu Grunde liegen. Erstens: Die Russen von der Notwendigkeit des Kriegs überzeugen (mehr dazu lesen Sie hier). Zweitens: Weitere Militärhilfe für die Ukraine aus dem Westen zu verhindern.

Folglich ist in der neuesten Situationsanalyse des renommierten Institute for the Study of War (ISW), das die Kriegsstrategie des Kreml seit jeher unter die Lupe nimmt, von einer “Informationsoperation” die Rede, “die Russlands Krieg in der Ukraine fälschlicherweise als existenziell für den Fortbestand der Russischen Föderation” darstelle. 

Wladimir Putin und die angebliche Bedrohung

Es ist nicht der erste Versuch Putins, die Tatsachen zu verdrehen. Im fortwährenden Kriegsverlauf, der für Russland von zahlreichen Fehlschlägen geprägt war, hat der russische Präsident immer wieder die faktische Verantwortung für den Einmarsch von sich gewiesen und seinen Imperialismus als Reaktion auf eine vermeintliche Bedrohung durch den kollektiven Westen dargestellt.

Auch die neueste “Informationsoperation” folgt dieser Mär, die Putin bereits bei seiner Rede zur Lage der Nation am 21. Februar prominent platziert hat. Bei seinem zweistündigen Auftritt vor der Föderalen Versammlung wiederholte der russische Präsident viele altbekannte Anwürfe und beschuldigte den Westen darüber hinaus, die Existenz Russlands zu bedrohen.

Seitdem sind mehrere namhafte Kriegsbefürworter auf die Erzählung Putins eingestiegen, wie das ISW feststellte. Dmitri Medwedew, früherer russischer Präsident und nun stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrats, fabulierte in einem Essay für die kremltreue Zeitung “Izwestija” ebenfalls von einer angeblichen Existenzfrage für sein Land. Zuletzt behauptete Verteidigungsminister Sergei Shoigu im Staatsfernsehen, dass die westliche Waffenhilfe darüber bestimme, wie weit die russischen Truppen die angebliche Bedrohung “zurückdrängen” müsse – als gelte es Russland gegen Invasoren zu verteidigen. 

“Sowohl Putins als auch Medwedews Äußerungen beziehen sich auf eine Informationsoperation, die den Krieg in der Ukraine als existenziell für das weitere Überleben der postsowjetischen Russischen Föderation darstellt”, heißt es in der ISW-Analyse, “was wahrscheinlich ein Versuch ist, den Krieg als einen höheren Einsatz für Russland und den Westen darzustellen als es tatsächlich der Fall ist.” 

Denn weder die Ukraine, noch ihre westlichen Unterstützer haben die Auflösung der Russischen Föderation oder gar ihre Zerstörung gefordert. Das Ziel der Militärhilfe wurde bisher maximal als Befähigung der Ukraine definiert, ihr gesamtes Territorium von den russischen Besatzern zurückzuerobern. Nach Ansicht der US-Denkfabrik zielten Putins Äußerungen daher auch darauf ab, den kollektiven Westen vor weiterer Waffenhilfe abzuschrecken – müsse sich Russland doch gegen die angebliche Bedrohung zur Wehr setzen, notfalls mit allen Mitteln.

“Diese Aussagen sollen den Westen wahrscheinlich davon abhalten, der Ukraine Langstreckensysteme zur Verfügung zu stellen”, indem suggeriert werde, “dass die Bereitstellung solcher Systeme den Krieg in die Länge ziehen wird, weil sie Russland ‘zwingt’, mehr ukrainisches Territorium zu übernehmen, um ‘sicher’ zu sein.” 

Vor diesem Hintergrund ordnet die US-Denkfabrik auch die jüngsten Äußerungen des russischen Präsidenten im Staatsfernsehen ein, wonach das russische Volk als “ethnische Gruppe” bedroht sei und bereits Pläne für die Zerstörung der Russischen Föderation in ihrer jetzigen Form “auf dem Papier” vorlägen. Folglich habe er keine andere Wahl gehabt, so Putin, das “New Start”-Abkommen zur atomaren Abrüstung auszusetzen, um die Sicherheit des Landes bei einer vermeintlichen konzertierten Aktion des Westens zu gewährleisten. 

Zwar sind die möglichen Folgen dieses Schritts noch nicht abzusehen, den Putin während seiner Rede zur Lage der Nation verkündet hatte, aber deuten sie aus Sicht von Experten auf länger andauernde Kämpfe hin. “Dieses Element mit der ‘New Start’-Suspendierung ist ein Zeichen dafür, dass es ein langer Krieg und langer Konflikt werden wird”, sagte die Sicherheits- und Verteidigungsexpertin Claudia Major im ZDF, “und, dass Russland kein Interesse an Deeskalation und vor allen Dingen kein Interesse an diplomatischen Lösungen hat”. 

Gleichzeitig verschärfe Putin mit seiner Mär von einer Existenzbedrohung seine Kriegsrhetorik, meint der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck. “Jedenfalls war das heute die direkteste nukleare Drohung Putins. ‘Es geht um die staatliche Existenz Russlands’. Genau diese Formulierung steht in der Nukleardoktrin und wird als Bedingung genannt, dass Russland Nuklearwaffen in einem konventionellen Krieg einsetzt”, schrieb Mangott auf Twitter.

Immer wieder hatte der russische Präsident mit einer nuklearen Eskalation gedroht, offenkundig mit dem Ziel, die Unterstützer der Ukraine vor weiterer Militärhilfe abzuhalten: Seit jeher äußern Beobachter erheblichen Zweifel, ob ein möglicher Atomwaffeneinsatz überhaupt von strategischem Nutzen für Russland auf dem Schlachtfeld sein könnte – abgesehen von den politischen Konsequenzen, die ein solcher wohl zur Folge hätte. 

“Wenn ein Staat mit Verweis auf sein Atomarsenal andere unter Druck setzen kann, dann wird jede Art von Außenpolitik unmöglich”, schrieb der Historiker Timothy Snyder von der Universität Yale kürzlich in einem Gastbeitrag für “Der Standard”, demzufolge ein “Einknicken vor dem russischen Atomgerede” auch aus strategischer Sicht falsch wäre. Die Unterstützung der Ukraine verringere die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs, so Snyder, “indem sie zeigt, dass atomare Erpressung nicht funktioniert.”

Source: stern.de