Der Streit über Kampfpanzer für die Ukraine: Leise Zweifel an Amerika

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Der Streit über die Lieferung von Kampfpanzern war nicht der erste im westlichen Lager, seit Putin die Ukraine überfallen hat. Mehr als die Auseinandersetzungen zuvor hat er aber ein ernstes Problem zwischen den Verbündeten zum Vorschein gebracht: In Europa, nicht zuletzt in Deutschland, ist man offenbar nicht restlos davon überzeugt, dass die Vereinigten Staaten „jeden Zentimeter“ des Bündnisgebiets verteidigen würden, wie das Präsident Joe Biden immer wieder betont. Trotz der Geschlossenheit, die der Westen in den vergangenen Monaten gezeigt hat, sind leise Zweifel zu erkennen, dass Amerika in der Auseinandersetzung mit Russland seine Schutzfunktion in jedem Fall übernehmen wird.

Das zugrunde liegende Problem ist so alt wie die NATO. Schon im Kalten Krieg gab es nicht nur über die Lastenteilung Debatten in der Allianz, sondern auch über die Verlässlichkeit der amerikanischen Sicherheitsgarantie. Das hat viel mit dem Aufkommen von Nuklearwaffen nach 1945 zu tun. Die USA hatten die beiden Weltkriege entschieden, aber das waren Konflikte, die letztlich keine fundamentale militärische Bedrohung für Amerikas Kernland darstellten.

Interkontinentalraketen ändern das Risiko

Mit der Entwicklung strategischer Nuklearwaffen, vor allem der von Interkontinentalraketen, änderte sich das. Die „gegenseitige zugesicherte Vernichtung“, die Amerika und die Sowjetunion einander androhten, bedeutete, dass ein Krieg, der in Europa ausbrach, dazu führen konnte, dass auch die Vereinigten Staaten in Mitleidenschaft gezogen werden. Im schlimmsten Fall drohte ihnen die weitgehende nu­kleare Zerstörung, obwohl sie viele Tausend Kilometer entfernt liegen.

Zur schwierigen Lage, die sich daraus für die Europäer ergab, ist ein Zitat des französischen Präsidenten Charles de Gaulle überliefert. Er fragte einmal, ob die Amerikaner wirklich bereit seien, New York für Paris zu geben. Es ist ein bekanntes Phänomen der internationalen Politik, dass militärischer Beistand nicht immer geleistet wird, obwohl er vereinbart ist. Ein bekanntes Beispiel ist der Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Frankreich hatte eine Allianz mit der Tschechoslowakei, war aber in der Sudetenkrise (ebenso wie Großbritannien) nicht bereit, das Land gegen Hitlers Ansprüche zu verteidigen. Im Kern geht es in solchen Fragen mehr um Interessenabwägungen als um vertragliche Vereinbarungen. Jedes Land wird sich gut überlegen, ob es für ein anderes in einen Krieg eintritt.

In der NATO ist dieses Problem heute noch akuter als im Kalten Krieg. Zur Hochzeit der Blockkonfrontation sah Amerika die Sowjetunion und das kommunistische Modell als größte Bedrohung, die nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt aufgehalten werden musste. In Korea und Vietnam führte das zu Kriegsbeteiligungen Amerikas. Heute ist die Bedrohungsanalyse in Washington differenzierter: Parteiübergreifend gilt China als der einzige Rivale in der Ausgestaltung der internationalen Ordnung, Russland dagegen als Bedrohung, die aktuell eingedämmt werden muss. Biden hat mehrfach klargemacht, dass es trotz der Unterstützung der Ukraine zu seinen Prioritäten gehört, nicht selbst in den Krieg gezogen zu werden.

Transatlantischer Konsens nicht mehr vorauszusetzen

Dass der alte transatlantische Konsens in Washington nicht mehr vorausgesetzt werden kann, hat die Amtszeit von Bidens Vorgänger deutlich gemacht. Donald Trump stellte die amerikanische Beistandsverpflichtung in der NATO infrage, er erwog offenbar sogar einen Austritt aus der Allianz. Ob er diese Haltung als Präsident angesichts des Ukrainekriegs beibehalten hätte, ist eine hypothetische Frage. Dass er keine Hemmungen hatte, langjährige und wichtige Verbündete im Stich zu lassen, zeigt sein Verhalten nach Drohnenangriffen auf saudische Ölanlagen im Jahre 2019, als er von einer militärischen Antwort absah. Selbst wenn es Trump nicht zurück ins Weiße Haus schaffen sollte, leben seine isolationistischen Überzeugungen in Teilen der Republikanischen Partei fort und dürften auch andere Präsidentschaftsbewerber beeinflussen.

Die Strategie, mit der in Europa versucht wird, die Amerikaner im Boot zu halten, stammt ebenfalls aus dem Kalten Krieg. Sie zielt auf eine direkte Beteiligung an der Verteidigung Europas ab, vor allem durch vorgelagerte Truppen und Waffen. Ein bekanntes Beispiel war der Doppelbeschluss der NATO, der maßgeblich auf den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt zurückging. In Europa wurden amerikanische Mittelstreckenraketen als Gegengewicht zu solchen russischen Waffen aufgestellt, um zu verhindern, dass Amerikas Sicherheit von der Europas entkoppelt würde. Nach der Osterweiterung des Bündnisses haben sich Länder wie Polen aus demselben Grund um eine ständige Stationierung amerikanischer Soldaten auf ihrem Territorium bemüht. Die Hoffnung lautet, dass Amerika einen Angriff auf eigene Truppen verlässlicher erwidern wird als einen, der die NATO-Partner allein trifft.

Diese Logik dürfte sich auch hinter dem Insistieren auf der Lieferung von amerikanischen Abrams-Panzern verbergen, mit dem Bundeskanzler Olaf Scholz den Streit über die Leopard-Panzer beendete. Die abgestimmte, wenn auch nicht gleichzeitige Lieferung würde es dem Präsidenten und der amerikanischen Politik insgesamt schwerer machen, einen russischen Schlag gegen die NATO als Reaktion auf eine europäische Eskalation zu betrachten, die das eigene Land nicht direkt angeht. Völlige Gewissheit über die Bündnistreue Amerikas gewinnt man damit aber auch nicht, denn keinem Präsidenten wird der Schritt zu einer militärischen Auseinandersetzung mit einer anderen Atommacht leichtfallen. De Gaulle wählte einen Ausweg, der Deutschland bisher versperrt war: den Aufbau einer eigenen nuklearen Abschreckung.

Source: faz.net