News: Warnstreiks, Fridays For Future, Olaf Scholz in die USA, Ver.di
heute geht es um zahlreiche Proteste in deutschen Städten – Fridays for Future kämpfen für ein besseres Klima, Ver.di für mehr Geld. Und der Kanzler fliegt zu einem zweistündigen Tête-à-Tête mit Joe Biden nach Washington.
Ungeliebtes Ritual (Protest 1)
Ich bin ein Freund von Ritualen. Einmal im Jahr mit den besten Freunden verreisen, einmal im Jahr aufs Oktoberfest, mindestens zweimal im Jahr mit den Kindern ein Wochenende nach Flaeming-Skate, in dieses wunderbare Skater-Idyll vor den Toren Berlins, die Christmette am Heiligabend – Rituale können wunderbar sein.
![Ver.di-Protestierende in Frankfurt am Main (2022) Ver.di-Protestierende in Frankfurt am Main (2022)](https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/55a391c6-4b6c-4837-a5d0-128831417e31_w718_r1.6741504854368932_fpx29.87_fpy50.jpg)
Ver.di-Protestierende in Frankfurt am Main (2022)
Foto: RONALD WITTEK / EPA
Das Ritual des Warnstreiks, das heute wieder einmal die Republik beglücken wird, wird mir hingegen von Mal zu Mal suspekter. Der Verlauf scheint immer gleich zu sein: Die Gewerkschaften stellen hohe bis illusorische Forderungen auf (in diesem Fall 10,5 Prozent mehr Gehalt für die 2,5 Millionen Beschäftigte im Öffentlichen Dienst, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat). Die Arbeitgeber bieten niedrigere bis unverschämte Gegenvorschläge (in diesem Fall Entgelterhöhung von fünf Prozent in zwei Schritten plus 2500 Euro Einmalzahlungen). Ein Warnstreik hier, ein Warnstreik dort, am Ende landet man irgendwo in der Mitte.
Beeinflusst die Wut der Menschen, die in Duisburg vergeblich auf den Bus warten, wirklich das Verhandlungsergebnis? Kann man sich das Ritual nicht einfach sparen und sich gleich in der Mitte treffen?
Andererseits: Das Recht zu streiken gehört zu den wenigen Machtmitteln, die Arbeitnehmer haben. Es ihnen zu nehmen, wäre dem gesellschaftlichen Zusammenhalt auch nicht gerade förderlich. Also werden wir weiter damit leben müssen, dass das öffentliche Leben bisweilen eingeschränkt ist, solange, bis die Aristotelische Mitte gefunden ist.
Nach den Arbeitsniederlegungen der vergangenen Tage wird heute weiter gestreikt. Ver.di hat angekündigt, in Hessen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Sachsen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz den öffentlichen Nahverkehr lahmzulegen, auch bayerische Städte sind betroffen: München, Augsburg, Regensburg, Ingolstadt, Bamberg, Landshut und Bayreuth. Wenn Sie dort wohnen oder arbeiten und im Genuss einer Betriebsvereinbarung sein sollten, die ihnen eine Zeit im Homeoffice zugesteht, dann sollten sie diese Annehmlichkeit vielleicht heute ausnutzen. Auch wenn es das Ziel des Warnstreiks (siehe Wut, oben) womöglich konterkariert.
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Fridays reloaded (Protest 2)
Als wäre es der Unruhe nicht genug, stürmen heute auch mal wieder die Fridays For Future die Innenstädte. Sie erinnern sich: Das sind jene Aktivistinnen und Aktivisten, die für eine bessere Klimapolitik kämpfen, ohne dabei mit Kartoffelbrei um sich zu werfen oder sich irgendwo festzukleben. Im Vergleich mit ihren Kombattanten von der »Letzten Generation« wirken die FFFlerinnen und FFFler wie eine Messdienergruppe auf Pilgerfahrt nach Altötting.
![Globler Klimaaktionstag der Fridays For Future im September 2021 Globler Klimaaktionstag der Fridays For Future im September 2021](https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/eccb2b7d-7222-46c1-a5be-9e9481d35705_w718_r1.5001614465611883_fpx38.64_fpy49.99.jpg)
Globler Klimaaktionstag der Fridays For Future im September 2021
Foto: CLEMENS BILAN / EPA
Allerdings hat diese Bewegung bislang politisch deutlich mehr erreicht als die nach krawalliger Aufmerksamkeit heischende »Letzte Generation«. Schon Angela Merkel hatte eingeräumt, dass die Klimagesetzgebung unter ihrer Kanzlerschaft wohl ohne den Druck der Straße nicht so weit vorangeschritten wäre. Und Ikonen wie Greta Thunberg gehören bei Institutionen wie den Vereinten Nationen, dem Weltwirtschaftsforum oder anderen internationalen Konferenzen längt zum festen Inventar an Rednerinnen und Rednern.
Doch offenbar war der Druck der Straße nicht groß genug: Deutschland hat im vergangenen Jahr seine Klimaziele verfehlt, wobei der Krieg, die Energiekrise und der Wegfall von russischem Gas daran seinen gehörigen Anteil hatten. Dennoch drängen die Aktivistinnen und Aktivisten auf mehr Anstrengung: Kohleausstieg bis 2030 (die Bundesregierung sieht den vorzeitigen Ausstieg bislang nur in Nordrhein-Westfalen vor), hundertprozentige Versorgung durch erneuerbare Energien bis 2025 und ein Ende für Subventionen fossiler Energien.
Blickt man auf Zahl der Kommunen, in denen heute protestiert wird, drängt sich der Eindruck auf, als könnte die FFF-Bewegung nach Zwangspause durch Corona und üblicher Ermüdung eine Wiederbelebung erfahren. In manchen Städten protestieren die Klimaschützer mit den Gewerkschaftlern von Ver.di übrigens gemeinsam.
Machen Sie sich also – sollten Sie nicht selbst mitmarschieren – in folgenden Städten auf Sprechchöre und Staus gefasst (der Anspruch auf Vollständigkeit besteht nicht):
Hannover, Bonn, Braunschweig, Göttingen, Berlin, München, Nürnberg, Köln, Dortmund, Karlsruhe, Freiburg, Hamburg, Dresden, Kiel, Stuttgart, Potsdam, Leipzig, Magdeburg, Halle, Münster, Frankfurt (Oder), Radolfzell, Augsburg, Heidelberg, Stralsund, Düsseldorf, Mannheim.
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Ziemlich beste Freunde …
… sind US-Präsident Joe Biden und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, zumindest wenn es nach dem deutschen Bundeskanzler geht. Voll des Lobes ist Scholz, wenn er über den US-Präsidenten spricht, wohl auch deshalb, weil er sich selbst als eine Art Zwillingsbruder sieht, abgesehen von äußerlichen Merkmalen.
![US-Präsident Biden, Kanzler Scholz im Juni 2022 beim G7-Treffen auf Schloss Elmau US-Präsident Biden, Kanzler Scholz im Juni 2022 beim G7-Treffen auf Schloss Elmau](https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/1f32cd96-47af-45b9-870f-11e727bc195f_w718_r1.4991394148020654_fpx54.02_fpy44.99.jpg)
US-Präsident Biden, Kanzler Scholz im Juni 2022 beim G7-Treffen auf Schloss Elmau
Foto: Sean Gallup / EPA
Biden denkt weit voraus, er wägt jeden Schritt gut ab, er interessiert sich wenig für Umfragen und oberflächliche Stimmungslagen, eher für die großen Linien; er unterstützt die Ukraine so großzügig wie er nur kann und sucht zugleich den ständigen Kontakt zu den Verbündeten; alles genauso wie Scholz – in den Augen von Scholz.
Nur in der Frage der Lieferung von Kampfpanzern waren die beiden Freunde offenbar mal kurz anderer Meinung. Die Deutschen hätten dem Weißen Haus damals gesagt, »dass sie nicht bereit seien, die Leoparden in den Kampf zu schicken«, solange Biden nicht bereit sei, auch Abrams zu schicken, erzählte neulich Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten. Biden, der die US-Panzer Abrams als ungeeignet für den Kampf in der Ukraine ansehe, habe dann nachgegeben, um die »Einheit des Bündnisses« nicht zu gefährden.
Solche Verstimmungen dürften auch ein Grund sein, warum Olaf Scholz heute dem US-Präsidenten einen »Arbeitsbesuch« in Washington abstattet – ohne militärische Ehren, ohne ein Begleitprogramm, ohne mitreisende Journalisten, ohne Pressekonferenz.
Es soll ein zweistündiges Vieraugengespräch ohne Berater werden. Neben der Panzerfrage wird es vermutlich auch darum gehen, unter welche Bedingungen ein Waffenstillstand und daran möglicherweise anschließend Friedensverhandlungen denkbar wären. Um die Frage, wie die Belieferung der Ukraine mit ausreichend Waffen und Munition sichergestellt werden kann. Und um die langfristige Perspektive der Ukraine, Stichwort Sicherheitsgarantien und möglicher Nato-Beitritt.
Es ist auch nicht auszuschließen, dass Joe Biden seinem engen Freund aus Deutschland nahegelegt, vielleicht auch mal einen Schritt vorauszugehen – und nicht immer abzuwarten, bis die Amerikaner diesen Schritt zuerst gehen.
Wir werden es leider nicht erfahren.
Polen im Ukrainekrieg: Auf dem Weg ins Zentrum Europas
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Die jüngsten Entwicklungen: Zehn Menschen werden nach dem Beschuss eines Wohnhauses in Saporischschja vermisst – und Präsident Selenskyj droht Russland. Brasilien will neutral bleiben. Und: neue Hilfen der USA.
Was über den Vorfall in Russlands Grenzregion bekannt ist: Russlands Machthaber Putin spricht von einem »Terroranschlag« im Grenzgebiet zur Ukraine – er beschuldigt »ukrainische Saboteure«. Doch eine zentrale Rolle spielt ein russischer Rechtsextremist.
Dieses Mal hört Lawrow immerhin zu: Beim G20-Außenministertreffen soll es eigentlich um Themen wie humanitäre Hilfe gehen. Annalena Baerbock aber nutzt die Chance, Putins Außenminister hart zu attackieren. Der bleibt wenigstens im Saal.
»Wäre ich vorgegangen, hätte es mich getroffen«: Sie sahen Offiziere prügeln, Kommandeure lügen, Kameraden plündern: Die Russen Sergej, Nikita und Danil marschierten in die Ukraine ein. Hier erzählen sie von einem Angriff, der von Anfang an nicht nach Plan lief.
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Die Startfrage heute: Wer war Regierender Bürgermeister in West-Berlin, als am 9. November 1989 die Mauer fiel?
Gewinner des Tages …
… ist Kai Wegner, Spitzenkandidat der CDU bei der Berliner Wiederholungswahl und mutmaßlich künftiger Regierender Bürgermeister der Hauptstadt.
![CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner](https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/8a425458-b0c1-4e5e-814c-46f94c0f5a90_w718_r1.5_fpx46_fpy47.jpg)
CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner
Foto: Jörg Carstensen / dpa
Dass diese Wahl so glücklich für ihnen enden würde, daran hat Wegner allerdings keinen allzu großen Anteil. Klar, er hat ein sensationelles Wahlergebnis eingeholt, allerdings vor allem dank der Schwäche der noch amtierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey von der SPD.
Doch lange sah es danach aus, als könnte Wegner damit – mangels williger Koalitionspartner – nichts anfangen. Er war ein König ohne Reich. Rot-Grün-Rot stand für eine zweite Runde bereits in den Startlöchern, so schien es zumindest. In Wahrheit war diese Koalition aber offenbar von Neid und Missgunst, von Meinungsverschiedenheiten und entgegengesetzten Positionen durchsetzt. Nur so ist erklärbar, warum alle plötzlich Wegner wollen, die SPD wie die Grünen, die sich nun gegenseitig übelste Schuldvorwürfe machen.
Gestern sprach sich die CDU-Führung dafür aus, mit der SPD-Koalitionsverhandlungen zu beginnen. Kai Wegner kann es vermutlich bis heute noch nicht fassen.
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Ihr Martin Knobbe, Leiter des SPIEGEL-Hauptstadtbüros