Neuer Roman von Karina Sainz Borgo: Die Wahrheit der Toten
Es gehört sich nicht, in Literaturkritiken über das Aussehen der Autoren zu sprechen, über das von Autorinnen schon gleich gar nicht. Trotzdem kommt, wenn man ein Buch von Karina Sainz Borgo liest, eine Frage auf: Wie sehen wohl ihre Fingernägel aus? Denn wer einen ihrer Romane öffnet, blickt in Gräber. Mit dem Satz „Wir beerdigten meine Mutter in ihren Sachen“ fing ihr Debüt „Nacht in Caracas“ an. Ihr neues Buch beginnt so: „Ich kam nach Mezquite auf der Suche nach Visitación Salazar, der Frau, die meine Kinder begraben hat und mir dann zeigte, wie man die anderen begräbt.“
Es wäre keine Überraschung, wenn sie solche Einstiege mit tiefschwarzer Friedhofserde an den Fingern tippen würde. Man liest also weiter und steigt ab in die düsteren Erzählungen, durch die das Gespenst ihres Heimatlandes Venezuela spukt. „Nacht in Caracas“, das erste Buch von Karina Sainz Borgo, handelte von der jungen Lektorin Adelaida. Nach der Beerdigung ihrer Mutter kann sie keinen Augenblick am Grab verweilen, denn nicht einmal dort ist Adelaida sicher vor Milizen. Wenige Parzellen weiter donnert Reggaeton aus Boxen, lassen junge Frauen am Sarg eines Bandenmitglieds die Hüften kreisen. Adelaida verlässt ihre Wohnung kaum, lebt dort von Stromausfall zu Stromausfall. Vor dem Fenster liegt ein von Hunger, Hyperinflation und Plündereien geprägtes Caracas, Hauptstadt des um die Jahrtausendwende reichsten Landes Südamerikas. Jetzt geht, wer kann.
Auch Sainz Borgo hat Venezuela 2006 verlassen, da war sie 24 Jahre alt. Seitdem lebt sie als Schriftstellerin und Kulturjournalistin in Spanien. „Nacht in Caracas“, das 2019 veröffentlichte Debüt, ist ein klaustrophobischer Text und wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt, ein einmaliger Erfolg in der venezolanischen Literatur.
Die Kinder sterben, die Hoffnung auch
Nun erscheint Sainz Borgos zweiter Roman „Das dritte Land“ auf Deutsch. Darin geht es um die, die gehen. Die jungen Eltern Angustias und Salveiro machen sich mit ihren sieben Monate alten Zwillingen auf den Weg, von einem nicht näher benannten Land in ein anderes. Ein Grund ist eine mysteriöse Krankheit, die in ihrer Heimat vor allem Männer befällt, sie apathisch macht und deren Gedächtnis zersetzt. Die Tage sind heiß, die Nächte kalt. Und schon der erste Satz macht deutlich: Es geht nicht gut. Die Kinder sterben bald und mit ihnen die Hoffnung auf ein besseres Leben.
Derweil ist in der Grenzregion alles knapp: Essen, Wasser. Auch ein würdevoller Abschied von den Toten ist kaum möglich. Den aber bietet Visitación Salazar an: Sie ist Totengräberin auf ihrem eigenen, illegalen Friedhof. Er liegt außerhalb des Örtchens Mezquite. Sie hat ihn „das dritte Land“ genannt. Gegen eine kleine oder gar keine Spende begräbt sie all jene, die auf der Flucht sterben. Auch die Kinder von Angustias liegen jetzt auf dem dritten Land. Also bleibt Angustias, geht Visitación zur Hand, holt Leichen und Benzin. Ihr Mann Salveiro ist da längst verschwunden.
Aber das ist nicht der Beginn einer Frauenfreundschaft. Visitación feiert, raucht und tanzt, doch wirklich nah sind ihr nur die Toten. Weil sie ihr nicht widersprechen, denkt Angustias. Liest man weiter über das Dorf und die Gewalt, die dort herrscht, möchte man korrigieren: Weil man sich nur vor ihnen nicht fürchten muss. Wie Borgo davon erzählt, wie die beiden Frauen eines von Angustias’ Kindern in einem Taufkleid für die Bestattung herrichten: Das wirkt zärtlicher als die meisten Passagen zwischen Lebenden in dieser Geschichte. „Das dritte Land“ ist in dieser Hinsicht ein Antihorror: Der Tod ist friedlich, alles davor ist es nicht.
Sainz Borgo hält Figuren und Leser gleichermaßen auf Distanz. Die paranoide Atmosphäre, die in ihrem Debüt noch die kleine Stadtwohnung beherrschte, überträgt sich hier auf das Grenzgebiet. Ob in improvisierten Flüchtlingsunterkünften, im Ortskern oder unterwegs im Pick-up: Überall drohen Überfälle, wenn nicht Schlimmeres. Selbst einen Schuhkarton, in dem Angustias’ Zwillinge ruhen, versucht eine Frau zu stehlen. Schon Jugendliche prostituieren sich bei den Lkw-Fahrern, die am Ort Station machen, darunter die fünfzehnjährige Consuelo. Ihre und Angustias’ Wege kreuzen sich immer wieder, doch erneut bleiben sie auf Abstand.
So wenig Wasser und Essen es auch gibt in Mezquite: Vertrauen ist dort die knappste Ressource. Anderen Menschen nicht zu nahe zu kommen ist nicht nur die beste Chance auf körperliche Unversehrtheit, sondern auch auf emotionale. Angustias schuftet stoisch auf dem Friedhof, rührt Mörtel an, pflegt die Ruhestätten. Die meisten Kapitel in diesem Roman werden aus ihrer Ich-Perspektive erzählt. Einblick in ihre Gefühlswelt gibt das aber nur begrenzt, wie ferngesteuert arbeitet Angustias um ihr Trauma herum: „Wir suchten kein Heim und kehrten in keines zurück, wir befanden uns nur auf dem Weg zu einem Grab.“
Die Geister des magischen Realismus
Stark inspiriert wurde Sainz Borgos neuer Roman von Juan Rulfos „Pedro Páramo“. Der mexikanische Klassiker des magischen Realismus handelt von der Geisterstadt Comala, in der die Verstorbenen vom Großgrundbesitzer Pedro Páramo erzählen. Mezquite ist wie Comala staubig und trostlos, auch bei Sainz Borgo stürzt ein habgieriger Unternehmer die Bevölkerung ins Unglück. Wie der Viehknecht bei Rulfo heißt er Abundio. Er lässt Guerilleros morden und marodieren, er kontrolliert den feigen Bürgermeister. Aus dessen Sicht werden die anderen Kapitel in Sainz Borgos Roman geschildert. Sie erzählen davon, wie Politik versagt, von Resignation.
Ein weiterer Einfluss ist der Antigone-Mythos, der dem Roman nicht nur ein zentrales Motiv leiht – das Recht darauf, seine geliebten Toten zu begraben –, sondern auch sein tragisches Schicksal. Der illegale Friedhof entzieht sich der Kontrolle von Abundio und seinen Schergen, seine Auflösung ist nur eine Frage der Zeit. Bis dahin warten, arbeiten, beerdigen die Frauen.
Und die Männer? Die vergessen. Wegen der mysteriösen Pest, die sie befällt. Und weil der Schnaps allem Mangel zum Trotz immer reichlich fließt. Salveiro kann seiner Frau Angustias vor Schwäche nicht einmal den Schuhkarton mit den Zwillingen abnehmen. Um später Guerillero zu werden, wie ganz Mezquite munkelt, reicht die Kraft aber doch.
In der lähmenden Hitze schleicht der Plot dem unausweichlichen Ende entgegen. Er hat durchaus seine Längen, die Figuren verändern sich kaum, und wenn, dann finden sie meist eine Parzelle bei Visitación. Dynamik bringt Sainz Borgo durch kurze Kapitel ein – und durch ihre Sprache. So verkümmert die Emotionen ihrer Figuren sind, so sinnlich ist die Welt um sie herum: sandige Dürre, prasselnder Regen, also eine Witterung, die auf den Gräbern höchstens Plastikblumen erlaubt. Man möchte sich bei der Lektüre im tiefsten mitteleuropäischen Winter den Staub aus den Haaren waschen. Selbst der Mond steht „rund wie ein Schussloch am Himmel“.
Als wollte selbst die Natur die Geflüchteten loswerden
Überhaupt scheint es, als wollte selbst die Natur die Geflüchteten loswerden. Doch etwas ist anders als in Rulfos Klassiker und anders als bei zahlreichen lateinamerikanischen Autorinnen wie Mariana Enríquez oder Samanta Schweblin, die in den vergangenen Jahren mit Büchern voll Gewalt und Horror auf sich aufmerksam gemacht haben. Auch „Das dritte Land“ ist brutal, das Elend teilweise unvorstellbar, aber es bleibt in der Realität verhaftet. Hier schweigen die Toten, nichts Übernatürliches schwingt mit. Während Visitación Bibelkurse in Frauengefängnissen gibt und aus ihrem Glauben ihre Kraft zieht, ist Religion für Angustias bloß eine Floskel. „Geh mit Gott“, wünscht ihr ein Grenzbeamter. Doch: „Gott hat sich nicht dazu entschlossen, uns zu begleiten.“ Die Menschen in diesem Roman sind so allein, nicht einmal die Geister leisten ihnen Gesellschaft.
Trotzdem wirkt er manchmal surreal, Raum und Zeit enthoben. Technologie ist rar, popkulturelle Referenzen fehlen. Anders als in „Nacht in Caracas“ sind die Orte fiktiv, die Länder und Grenzen nicht näher benannt. Das ist ein kluger Weg, um zu veranschaulichen, wie sehr eine Flucht desorientiert, wie stark die Erfahrung von Tod und Verlust einzelne Momente hervorhebt und komplette Wochen ineinander verschwimmen lässt. Wie wertvoll ein Friedhof werden kann, wenn ein Menschenleben sonst nichts zählt. Die spanischsprachigen Bezeichnungen und die beschriebenen Landschaften passen zum Norden Südamerikas. Das, was im Roman geschildert wird, geschieht überall auf der Welt, aber eben auch in Venezuela. Knapp 31 Millionen Menschen leben derzeit im Land, rund sieben Millionen sollen es laut dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen verlassen haben. Damit zählt die Krise in Venezuela zu denen, die international zuletzt die größten Fluchtbewegungen ausgelöst haben.
Karina Sainz Borgo verdichtet internationale Zusammenhänge auf wenigen, entscheidenden Quadratkilometern an der Grenze: das Versagen der Politik, der Vorrang wirtschaftlicher Interessen, das Leid der Heimat- und Hoffnungslosen, von Armut gleichgemacht. „Das dritte Land“ ist ein bitteres Buch voll komplexer Figuren, das die Unmenschlichkeit der Flucht nie relativiert. Und doch: Am Ende gibt es Hoffnung. Wenn auch nicht für alle.
Source: faz.net