Der Fall der Londoner Börse
Innerhalb von fünf Tagen ist WANdisco schon der dritte Fall. Der Softwarehersteller mit Schwerpunkt auf der Verarbeitung großer Datenmengen, der Google und Amazon zu seinen Kunden zählt, ist zwar im Segment AIM für kleine und mittlere Unternehmen der London Stock Exchange (LSE) gelistet. Doch am 6. März hat das Unternehmen, das je eine Zentrale im britischen Sheffield und in San Ramon in Kalifornien unterhält, den nächsten Schritt mitgeteilt: ein Listing in New York.
Prompt geht in London die Sorge um, WANdisco bald ganz zu verlieren, wie schon Anfang März zwei anderen Unternehmen. So hat der japanische Tech-Konzern Softbank entschieden, den Chip-Hersteller Arm aus dem eigenen Haus in New York an die Börse zu bringen. Auch CRH, einer der weltgrößten Spezialisten für Baumaterialien mit einer Marktkapitalisierung von 30 Milliarden Pfund (34 Milliarden Euro), verlegt sein Primary Listing an die Wall Street.
LSE-Chef David Schwimmer gab sich angesichts der Entscheidung von CRH entspannt. „Wenn Unternehmen, die solche Entscheidungen treffen, den Schwerpunkt ihres Geschäftes in den USA haben, dann ist das nun mal so“, sagte er. Auch in Zukunft werde die LSE alles tun, Unternehmen für die Börse zu interessieren. London bleibe ein sehr begehrter Handelsplatz.
CRHs Geschäft hängt tatsächlich stark vom nordamerikanischen Markt ab. Im vergangenen Jahr entfielen drei Viertel des Vorsteuergewinns von 5,6 Milliarden US-Dollar (5,3 Milliarden Euro) auf die Vereinigten Staaten und Kanada.
Eine mindestens ebenso wichtige Rolle bei der Entscheidung dürften aber die Liquidität des Marktes und die Bewertung spielen. Rund das 15-Fache der erwarteten künftigen Gewinne ist der Konzern mit Sitz in Dublin den Anlegern wert. Kleinere Wettbewerber, die in den USA notieren, werden mit dem 25- bis 30-Fachen bewertet.
Die Kluft zeigt sich auch in anderen Branchen. Im Schnitt des Index S&P500 liegen die Bewertungen in den vergangenen Jahren regelmäßig um mindestens zwei Drittel über denen des FTSE350 – und der Abstand hat seit der Pandemie zugelegt.
Derweil bewegt sich die Handelsaktivität in dem britischen Index seit bald zwei Jahrzehnten stetig nach unten. Wechselten Anfang 2004 im Schnitt drei Milliarden Aktien den Besitzer, sind es mittlerweile nur noch rund eine Milliarde.
Britische Pensionsfonds ziehen sich zurück
Eine der Ursachen sei das schwindende Interesse von britischen Pensionsfonds an nationalen Aktien, sagte Schwimmer. Hielten diese institutionellen Anleger vor zwei Jahrzehnten noch rund die Hälfte ihrer Portfolios, sind es heute, nach Anpassungen der Rechnungslegungsvorschriften, nur noch knapp fünf Prozent.
Arm, CRH und WANdisco sind nur die jüngsten Beispiele der Entwicklung. Im vergangenen Jahr hat der Installationsspezialist Ferguson seine Haupt-Notierung in die USA verschoben, das Bergbauunternehmen BHP nach Sydney. Auch Flutter, ein irisches Gaming-Unternehmen, erwägt diesen Schritt.
Nach Informationen der „Financial Times“ hat auch der Mineralölkonzern Shell über eine Verschiebung der Notierung nach Nordamerika nachgedacht, sich aber doch dagegen entschieden. Der Ölriese Saudi Aramco hat schließlich dem britischen Finanzplatz 2019 einen Korb gegeben und sich für eine Notierung im Heimatland entschieden, obwohl er monatelang von der britischen Finanzwelt und der Politik umworben worden war.
Zwischen 2010 und 2017 haben sich in keinem Jahr mehr als fünf britische Unternehmen für eine Notierung an einer ausländischen Börse entschieden. 2021 waren es 23.
Dabei geht es um mehr als das Ansehen des Finanzplatzes London. An einer Börse notierte Unternehmen beauftragen Anwälte und Kommunikationsagenturen im Land, arbeiten mit Versicherern und Fondsgesellschaften zusammen.
Besonders schmerzlich für die britische Regierung sind die Entscheidungen von Technologiekonzernen wie dem Chip-Experten Arm, die sie gerne eng an das Land binden würden, in der Hoffnung, dass sich in ihrem Umfeld weitere Spitzentechnologie entwickelt oder angesiedelt.
Um Arm hatte Premierminister Rishi Sunak besonders geworben und sich vor Weihnachten mit Softbank-Chef Masayoshi Son und Rene Haas, dem Vorstandsvorsitzenden von Arm, getroffen, um sie von den Vorteilen des Börsenplatzes London zu überzeugen.
Zur Begründung verwies Arm auf eine Regel zur Offenlegung von Transaktionen innerhalb des Konzerns. Vor einer Notierung an zwei Standorten sei das Unternehmen aus Kostengründen zurückgeschreckt.
„Für London ist das eine weitere Bestätigung, dass die Pläne, die LSE als Hafen für schnell wachsende Tech-Konzerne zu vermarkten, nicht funktionieren“, sagte Sophie Lund-Yates, Analystin bei Hargreaves Lansdown.
Die Regierung setzt nun darauf, mit einem bereits angekündigten Reform-Paket die Attraktivität von London als Börsenplatz wieder aufzupolieren. Die sogenannten Edinburgh Reforms, Anfang Dezember von Schatzkanzler Jeremy Hunt vorgestellt, sollen unter anderem die Regeln für Börsenprospekte, Short Selling und Investment-Research modernisieren. Unter anderem sollen auch zahlreiche „belastende Rechtsvorschriften der EU“, die noch in Kraft sind, wegfallen oder ersetzt werden.
„Alles auf Aktien“ ist der tägliche Börsen-Shot aus der WELT-Wirtschaftsredaktion. Jeden Morgen ab 7 Uhr mit den Finanzjournalisten von WELT. Für Börsen-Kenner und Einsteiger. Abonnieren Sie den Podcast bei Spotify, Apple Podcast, Amazon Music und Deezer. Oder direkt per RSS-Feed.
Source: welt.de