Angela Merkel bediente die Wünsche einer bequemen Wohlstandsgesellschaft
„Durch einen Spiegel ein dunkles Bild.“ So würde ich mit den Worten des Apostels Paulus meinen Blick auf die „Merkel-Zeit“ beschreiben, die Olaf Scholz mit seiner Zeitenwenden-Rede für beendet erklärte. Das Bild ist dunkel, weil wir mit Angela Merkel eine Zeit der Illusionen und Problemverschleppungen verbinden (müssen).
Die Illusion begann damit, dass wir mit dem Fall der Sowjetunion eine Zeit des immerwährenden Friedens und Wohlstands in Europa gekommen sahen. Mochten auch anderswo mörderische Kriege toben, wir sahen uns davon unberührt. Die Regierungszeit von Angela Merkel stand für Abrüstung und den Verfall unserer Wehrfähigkeit. Mit der „Friedensdividende“ nährten wir den Wohlfahrtsstaat.
Die Illusion setzte sich damit fort, dass wir fest daran glaubten, uns feindlich gesinnte Diktaturen und Autokratien könnten mit „Wandel durch Handel“ und „Diskursethik“ nach Jürgen Habermas besänftigt und in unsere Friedenswelt eingegliedert werden.
Von Putin-Russland bezogen wir die Energie, mit der wir Güter herstellten, die wir nach Xi-China schickten. Und wir hielten an der Illusion fest, dass der Euro als Krönung des europäischen Einigungswerks alternativlos sein sollte, auch wenn wir für den Erhalt der Einheitswährung Haftungsrisiken von rund 1,7 Billionen Euro übernahmen.
Kaum ein Politiker stand mehr für diese Zeit als Angela Merkel. Der ehemaligen Bürgerin des Sowjetimperiums fiel durch dessen Verfall die Chance zum kometenhaften Aufstieg in die Spitzenpolitik Deutschlands und Europas in den Schoß. Eine ähnliche Karriere aus den Ruinen des einstigen Reichs gelang nur Wladimir Putin, der zur gleichen Zeit wie Merkel in die Politik einstieg und im gleichen Jahr wie sie die Chefetage der Politik erreichte.
Stand Merkel für die Zeit des unechten europäischen Friedens bis zum Ukraine-Krieg, verkörpert Putin den Phantomschmerz Russlands nach der Amputation wesentlicher Glieder des Sowjetimperiums.
Verfehlte Energiepolitik, dysfunktionale Staatsbürokratie, europäische Schuldenberge
Das dunkle Bild ist aber auch unser Spiegelbild. Denn Angela Merkel gestaltete nicht die Politik in der Zeit des unechten Friedens, sondern bediente den Wunsch einer bequemen Wohlstandsgesellschaft nach Ruhe und Versicherung aller Lebensrisiken. Sie war lange Zeit die beliebteste Politikerin Deutschlands, weil sie Probleme, deren Lösung anstrengend gewesen wäre, zur Erleichterung aller unter den Teppich kehrte.
Erst nach ihrem selbst gewählten Abschied von der Politik wurde sichtbar, was alles darunter steckte: eine verfehlte Energiepolitik, eine zerbröselnde Infrastruktur, eine dysfunktionale Staatsbürokratie, die wehrunfähige Bundeswehr und europäische Schuldenberge mit deutscher Haftung.
Ihr Nachfolger hatte im Wahlkampf noch die Raute gezeigt und bei seinem Amtsantritt versprochen, dass sich „so viel da nicht ändern“ werde. Nur drei Monate später war dieses Versprechen nicht mehr zu halten. Man muss Olaf Scholz zugutehalten, dass er dies sah und rhetorisch mit der Ära Merkel brach.
Aber man darf auch nicht übersehen, dass die deutsche Gesellschaft in der neuen Zeit nach der Zeitenwende noch nicht angekommen ist. Das Versagen der früheren Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und die Zögerlichkeit von Olaf Scholz bei der Umsetzung seiner „Zeitenwendepolitik“ sind nur die äußeren Zeichen für die Mentalität der in der Merkel-Ära noch immer verwurzelten Mehrheit der Deutschen.
„Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“, heißt es weiter bei Paulus. Nun hängt es von uns ab, wie künftige Historiker über das Deutschland unserer Zeit urteilen werden.
Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute. Am 24. Februar erschien sein neues Buch „Russlands Werk und Deutschlands Beitrag“
„Alles auf Aktien“ ist der tägliche Börsen-Shot aus der WELT-Wirtschaftsredaktion. Jeden Morgen ab 7 Uhr mit unseren Finanzjournalisten. Für Börsenkenner und -einsteiger. Abonnieren Sie den Podcast bei Spotify, Apple Podcast, Amazon Music und Deezer. Oder direkt per RSS-Feed.
Source: welt.de