Furchtbare Kursverluste an der Börse – Frankfurter Zeitung von 1923
Der Einbruch des deutschen Aktienmarktes hat sich in dieser Woche in verschärftem Tempo fortgesetzt. Es kam eine erstaunliche Fülle von Effektenmaterial zum Verkauf, und die zeitweise recht drängende Form der Realisationen spiegelte die ganze schwere Krise, die unser Wirtschaftsleben in diesen Wochen und Monaten zu bestehen hat, wider.
Die Situation ist folgende: Zwei große Sammel-Reservoire haben neben der regulären Kapitalanlage in den vergangenen Jahren das immer wieder um Milliarden vermehrte Aktienmaterial der Inflationsperiode aufgenommen, durch das – vielfach ohne die nötige Kondensierung der Ansprüche auf dem Weg der Agio-Ausnützung – die Betriebsmitteldeckung, die Anpassung an die Geldentwertung sich vollzog. Auf der einen Seite strömten die Aktien, unterstützt durch die Propaganda der an den lockenden Emissionsgewinnen interessierten Finanzkreise, in die Hände der unter der Not der Zeit ins Unangemessene verbreiteten Börsenspekulation, auf der anderen Seite wurde die Aktie als wirklicher oder vermeintlicher Sachwert Mittel zur Substanzerhaltung für den wirtschaftlichen Betrieb in Handel, Gewerbe und Industrie. Sie wurde mit der Auslandsdevise – und besonders, seitdem die letzte Devisenverordnung den Kreis der Devisenkaufberechtigten eingeschränkt hatte – mit der Ware selbst der wichtigsten Repräsentant der Betriebs -und Vermögensreserve.
Störung des Geld- und Kreditmarktes
Aus dieser besonderen Art der Platzierung umfangreicher Teile des deutschen Aktienmaterials, die sich von den Verhältnissen in der Vorkriegszeit wesentlich unterscheidet und die nur in verhältnismäßig unbeträchtlichem Umfange durch Übergang deutscher Aktien in Auslandshand gemildert wird, ergab sich, worauf an dieser Stelle schon früher nachdrücklich hingewiesen worden ist, dass die Konsolidierung der Aktienunterbringung und damit die Gesamtverfassung des Effektenmarktes jetzt in viel höherem Grade als früher abhängig geworden ist von den Schwankungen der Währungs- und Geschäfts-Konjunktur, der Wirtschaftslage im Ganzen.
Es ist einleuchtend, dass jede schwere Störung des Geld- und Kreditmarktes, jede Unterbrechung des regulären Umsatzes im geschäftlichen Leben bei Fortdauer der gewöhnlichen Betriebskosten und besonders bei Steigerung dieser jede Erschütterung des Währungsmarktes mit ihren unvermeidlichen Folgen den Aktienmarkt intensiv beeinflussen mussten. Wir haben bei milderen Konjunkturschwankungen der neueren Vergangenheit bereits größere Liquidationsprozesse sich vollziehen sehen. Sie hatten meist einen geringeren Umfang als der gegenwärtige schwere Einbruch der Kurse.
Rasende Markentwertung
Die Börsen-Konjunktur hatte im Januar 1923 mit der rasenden Markentwertung einen ungeheuren Aufschwung genommen. Die Spekulation, und zwar ganz besonders die außerhalb der Börse, hatte sich mit einer aufs höchste gesteigerten Gier unter den Zwang, der maßlosen Teuerung durch Spekulationsgewinne zu begegnen, dem Effektenspiele zugewandt, die Agiotage blühte wie nie zuvor. Panikartige Vorversorgung im Geschäftsleben und eine damals noch zu weitgehende Kreditbereitschaft der Finanzwelt, die allerdings damit ihre eigenen Interessen durch Ermöglichung der Massenmissionen fördern zu sollen glaubte, hatten im Geschäftsleben zu einer Scheinliquidität geführt, welche die Folge hatte, das auf der einen Seite riesige Wechsel- und Bankverpflichtungen der Betriebe bestanden, auf der anderen Seite aber eben diese Betriebe und ihre Inhaber Groß-Interessenten des Aktienmarktes wurden, dies in der Hoffnung, in der Entwicklung der Effektenkurse einen Ausgleich für jedes Geldentwertungsrisiko, für die hohen Bankspesen zu finden und sich gleichzeitig die Möglichkeit zu sichern, den übernommenen geschäftlichen Verpflichtungen aus dem erwarteten Mehrwert der Aktien genügen zu können.
So trug die Entwicklung des Aktienmarktes im Januar durchaus den Charakter einer auf schwankendem Boden stehenden Inflationshausse, deren Entwicklung in einem offensichtlichen und bedenklichen Missverhältnis zu der sich rasch verschärfenden außenpolitischen und innenwirtschaftlichen Lage befand. Der Monatswechsel vom Januar zum Februar brachte dann einen zunächst prinzipiellen Umschwung der Lage, der sich erst allmählich, aber später in rasch steigendem Maße an der Börse auswirkte. Die Reichsbank unternahm unter Heranziehung starker Reserven den Versuch, trotz der schweren Konfliktlage und trotz der materiellen nachdrücklichen Beeinträchtigungen der wirtschaftlichen und währungspolitischen Grundlagen unseres Staatslebens (man denke nur an die unerhörte Produktion der Notenpresse, an die bei schwierigem Export notwendig gewordenen Zusatzeinfuhren von Kohle etc., an die Beeinträchtigung der Kohlensteuer, der Steuerkraft der besetzten Gebiete, der Zolleinnahmen etc.) die Währungstiefenentwicklung abzubremsen, der Teuerungskatastrophe Einhalt zu gebieten.
Verschärfungen der Lage
Der bisher mit ansehnlichem Erfolg durchgeführte Versuch, dessen Fortführung durch die Dollaremission des Reiches für eine weitere Periode gesichert und im Übrigen durch die Maßnahmen der Reichsbank am Geldmarkte selbst gefördert wird, ist in seinem Enderfolge freilich abhängig von dem heute nicht übersehbaren Ausgang des politischen Konflikts, der, wenn er in absehbarer Zeit zu einer erträglichen Neuordnung und Bereinigung der politischen Lage und der Reparationsfragen führt, die valutarische Umwälzung der letzten Wochen bestätigen und vielleicht noch verbessern wird – während anderseits ein haltloses Weitertreiben des französischen Imperialismus und seine etwaige dauernde Duldung durch die Umwelt die durch die Reichsbank geschaffene Neuordnung der Lage wieder nach anderer Richtung umgestalten und in Frage stellen kann.
So sehr man also mit einem abschließenden Urteil über die Dauergestaltung wird zurückhalten müssen, so lässt sich doch anderseits die erhebliche Wirkung, welche die Reichsbank bis jetzt ausgelöst hat, feststellen. Es ist gelungen, die Teuerung zunächst abzubremsen. Die Kurse der Auslandswährungen stehen unter der Hälfte ihres einmal erreichten Höchstniveaus und die Kräfte, die die Mark halten, sind sicherlich so stark, dass, wenn nicht unerwartete besondere Verschärfungen der Lage politischer Art eintreten, für nähere Zeit die gewonnene Linie behauptet und wohl auch noch weiter entwickelt werden kann.
Lawine der Aktien-Milliarden
Diese Lage wirkt sich nun schroff in allen Bereichen des Geld- und Börsenwesens aus. Durch scharfe Kreditbeschränkungen, durch rigorosere Behandlung der Handels- und besonders der Finanzwechsel, durch weitgehende Zerstörung des Devisenbeleihungsgeschäfts sind große Teile des Effektenbesitzes zu einem Liquidationsprozess gezwungen worden. Dieser Prozess wurde dadurch beschleunigt, dass die erfolgreiche Politik der Markhebung unmittelbar eine Absatzstockung – wir verweisen auf den Verlauf der Leipziger Messe – und damit die Unterbrechung des geschäftlichen Umsatzes in die letzte Hand, in den Konsum, zur Folge hatte. Es wiederholt sich Ähnliches jetzt, was bereits einmal, es war in den ersten Monaten 1920, bei einem ähnlichen Tendenzwechsel am Devisenmarkt eingetreten war. Der Warenhandel, aber auch bereits gewisse und wachsende Teile der Produktion sind in eine Zange geraten, deren Greifglieder sich schließen.
Diese Zange presst die Reserven heraus. Diese bestehen, da Verlustverkäufe von Waren – aber mit dem Risiko einer später vielleicht noch ungünstigeren Marktlage – vielfach noch vermieden werden, aus Effekten und Devisen. Die Devisenabgabe verschärft die Wirkungen der Währungskrise auf das Warengeschäft, die Effektenabgabe tritt neben ihr in den Vordergrund und entlädt sich mit verheerender Wucht über die Börsen. Dazu kommt nun, die Wirkung außerordentlich verstärkend, dass dem Devisenpreisabbau keineswegs eine entsprechende Teuerungssenkung für die Lebenshaltung gefolgt ist; wenn auch hier und dort, besonders bei typischen Importwaren und bei Erzeugnissen aus solchen, die Kurve niedergeht, so treiben doch andere unentbehrliche Bedarfsgüter – wir erinnern nur an die Entwicklung der Elektrizitäts-, der Gaspreise usw. – noch immer weiter, so dass im Ganzen die Teuerungskurve bis jetzt zum mindesten keine fühlbare Senkung zeigt. Das hat zur Folge, dass auch die Privatspekulation, die heute über alle Kreise des Volkes verbreitet ist, ihrer Effektenreserven sich entledigen muss. Der Liquidationsprozess greift scharf auch auf dieses Effekten-Reservoir über.
Aus der Gesamtheit dieser Ursachen ist das Börsenbild der Gegenwart, mit seinen furchtbaren Kursverlusten, mit seinem drängenden Angebot und dessen Folgen für die Marktverfassung entstanden. Die Lawine der Aktien-Milliarden ist ins Gleiten gekommen; es lässt sich nicht beurteilen, wann und wo sie zur Ruhe gelangen wird. Der Senkungsprozess ist tatsächlich heute schon weit vorangeschritten. Erschwerend tritt hinzu, dass die in früheren Zeiten häufig marktstützende ausländische Nachfrage nach deutschen Aktien erheblich nachgelassen hat. Auch hier liegt eine Folge der politischen Krise vor, in die uns die Ruhr-Aktion gestürzt hat und die dem Kapital im Auslande das Interesse an den Aktien-Repräsentanten der deutschen Arbeit weniger reizvoll erscheinen lässt.
Dass das Missverhältnis der deutschen Aktienwerte zum Goldwert der Kurse heute sehr stark ist, ist unbestreitbar, auch wenn man die Emissions-Entwicklungen der letzten Jahre in Rechnung zieht. Dem Anreiz, den dieses Missverhältnis bieten könnte, stehen aber die Auswirkungen der ungünstigen technischen Verfassung der deutschen Aktienmärkte und die Gefahrenfaktoren der politischen Gesamtlänge gegenüber.
Source: faz.net