Alltag mit Demenz: So darf ein Leben doch ausatmen
Helga Schubert hat nicht getan, was man ihr nach dem Bachmann-Preis, den sie 2020 mit achtzig Jahren gewann, dringend empfohlen hatte: nun erst mal über ihre Zeit mit Christa Wolf und Sarah Kirsch in den Siebzigerjahren zu schreiben, also ihre Version der legendären DDR-Schriftstellerkolonie im mecklenburgischen Neu Meteln zu präsentieren, von der auch sie ein Teil war, und auf diese Weise, das war wohl der Subtext des gut gemeinten Rats, zu beglaubigen, dass auch sie nun tatsächlich in die von solchen Namen markierte Literaturwelt hineingehört. Obwohl Schubert schon seit fünf Jahrzehnten Bücher veröffentlicht, war sie bis zu ihrem Bachmann-Auftritt der westdeutschen Szene ja nicht als Figur bekannt, mit der man zu rechnen hat, und in diesem unüblichen Alter des Berühmtwerdens traute man ihr offenbar vor allem Erinnerungen zu. Stattdessen handelt der Großteil ihres neuen Buchs nun aber von absoluter Gegenwart – nicht von der Gegenwart der politischen Ereignisse und der gesellschaftlichen Debatten allerdings, sondern von einer Gegenwart, die sich auf einen denkbar kleinen Punkt zusammengezogen hat, auf die Konzentration, die es zum Beispiel braucht, den Bettbeutel eines Blasenkatheters fachgerecht zu leeren.
Die Schriftstellerin Helga Schubert schildert in „Der heutige Tag“ minutiös das Leben, das sie an der Seite ihres 95 Jahre alten Mannes führt, der an Demenz erkrankt ist. Sie nennt ihn in dem Buch „Derden“. Was diese spezielle Art Zeitgenossenschaft von der in der Öffentlichkeit gewohnten unterscheidet, wird vor allem an einer Stelle deutlich. Sie erzählt, wie sie an einer Zoom-Konferenz des PEN teilnimmt, während Derden, der eben noch im Nebenzimmer lag, sie auf der Straße sucht und dort mit dem Rollstuhl umkippt; nach der Konferenz findet sie ihn hilflos vor dem Gartentor liegen. „Du hast mir wieder geholfen“, sagt der Mann, nachdem sie ihn aufgerichtet hat: „Der Mensch denkt, und Gott sternt. Gott lenkt, meinst du? Nein, er sternt, er sterbst. Wir lachten erleichtert.“ Alles, sogar die Sprache bekommt in dieser Situation einen anderen Sinn.
Konzentration auf den Augenblick
Wie in dem Vorgängerbuch „Vom Aufstehen“ ist der Text in kurze Kapitel gegliedert, aber anders als dort umspannen die meisten dieser Abschnitte keine längeren Zeiträume aus der Vergangenheit, sondern beschränken sich ganz auf einzelne Momente der Jetztzeit: den Zahnputzbecher mit warmem Wasser und ein paar Tropfen Zahnputzwasser füllen, das Gebiss des Manns spülen, in sein Zimmer gehen, sich auf seine Bettkante setzen, ihm den Zahnputzbecher und zum Ausspucken der Mundspülung einen leeren großen Joghurtbecher geben.
Dass diese Konzentration auf den Augenblick programmatisch gemeint ist, verrät schon das Zitat aus dem Matthäusevangelium, das dem Buch vorangestellt ist: „Darum sorgt nicht für den andern Morgen, denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen.“ Das ist offensichtlich eine realistische Überlebensstrategie angesichts der ständig drohenden Überforderung, aber in diesem Buch ist es noch mehr als das. „Und nichts fehlte“, schreibt Schubert über einen dieser Augenblicke, der ihr in seiner extremen Reduziertheit („Das ist übrig nach unseren Jahrzehnten, dachte ich: Hände, die sich aneinander wärmen“) dennoch ganz vollständig, ja glücklich vorkommt. Diese immer wiederkehrende Intuition hat weitreichende Folgen. Schubert wendet sie nämlich gegen den Bekannten und den Arzt, die ihr sagen: „Das ist doch kein Leben mehr für ihn.“ Das ganze Buch ist ein einziger Einspruch gegen diesen vermeintlichen Common Sense: Doch, auch das ist ein Leben. „So darf ein Leben doch ausatmen“, heißt es einmal.
Furchtlos einfache Sätze
Mit Naivität ist diese Haltung nicht zu verwechseln, davor bewahrt sie schon die Schonungslosigkeit, mit der Schubert die Härten der täglichen Pflege und ihre eigenen Momente der Verzweiflung protokolliert, etwa wenn der eigene Mann sie für eine andere hält, die sie nur nachahmt. Doch das Buch ist furchtlos auch insofern, als es inmitten seines nüchternen, präzisen Realismus nicht vor ganz einfachen Sätzen zurückschreckt. „Ich liebe ihn sehr“ – das steht dann einfach so als eigener Absatz zwischen der Kontrolle der Windeln und der Ausrichtung des Rollstuhls da.
Rückblicke geben der Beziehung zu dem Mann, der Professor war und dann jahrzehntelang vor allem gemalt hat, Kontur; doch deren Fluchtpunkt bleiben die Einblicke in die oft rätselhafte Welt des Erkrankten, an die sich die Erzählerin mehr und mehr anpassen muss. Es gibt auch komische Szenen, etwa wenn ein Bekannter empfiehlt, Derden mit einem nassen kalten Waschlappen zu wecken: „Das mache er bei seiner Frau auch. Sie stand auf der Straße daneben, und ich beschloss, den Rat nicht zu befolgen.“
In der zweiten Hälfte lässt die erzählerische Konzentration nach, da franst das Buch mit Episoden über verschiedene sterbende oder selbstmordgefährdete Menschen etwas aus. Sonst aber macht gerade die äußerste Beschränktheit des geschilderten Erfahrungsraums das Leseerlebnis dieses erstaunlichen Buchs nicht eng – im Gegenteil.
Source: faz.net