Das große Rätselraten um die Nachhaltigkeit
Eines ist schon jetzt klar: Die Taxonomie-Verordnung der Europäischen Kommission wird Finanzdienstleister dazu zwingen, nachhaltiger zu werden. Wie genau das geschehen wird, ist noch offen. Für Versicherer werden sich die neuen rechtlichen Vorgaben auf beiden Seiten der Bilanz auswirken. Die Kapitalanlage auf der Aktivseite muss so gestaltet werden, dass bis Mitte des Jahrhunderts keine fossilen Aktivitäten mehr im Portfolio liegen. Und auf der Passivseite werden sich Versicherer zunehmend von Risiken verabschieden müssen, die mit hohem CO2-Verbrauch einhergehen.
Die seit Anfang des Jahres geltenden Berichtsstandards verändern das Management von Geldanlage und Underwriting, also dem Zeichnen von Versicherungsrisiken. „Das lässt sich fürs Kapitalanlagengeschäft noch einigermaßen einfach anwenden“, sagt Fred Wagner, Versicherungsprofessor der Universität Leipzig. „Aber wenn sie im gesamten Geschäftsmodell angewandt werden müssen, auch bei der Risikoselektion und Produktgestaltung im Versicherungsgeschäft, wird es komplex.“
Aktuell bemühen sich die Gesellschaften, klare Anhaltspunkte zu finden, wie sie die Regeln umsetzen sollten. Die Regeln sind in einigen Sparten anzuwenden, in anderen nicht. Für Berufsunfähigkeits-, Krankheitskosten-, Arbeitsunfall-, Auto-, See-, Luft- und Transportpolicen sind sie bindend. Auch für Feuer-, Gebäude-, Hausrat- und Betriebsunterbrechungsversicherungen gelten sie. Bei Rechtsschutz ist es unklar, Haftpflicht ist nicht erfasst, weil dort keine Schutzziele der EU berührt sind.
Alles hängt an drei Buchstaben
„Von rechtlicher Seite ist es alles andere als klar, von den geschäftlichen Auswirkungen noch unklarer“, sagt Michael Fortmann, der an der Technischen Hochschule Köln zu aufsichtsrechtlichen Themen lehrt. Versicherer müssten einen ESG-Score in Prozent angeben, der sich kontinuierlich verbessern soll. Die Abkürzung ESG steht für die englischen Begriffe Umwelt, Soziales und Unternehmensführung. Doch selbst die Frage, wie der Prozentsatz angegeben werden muss, entscheidet sich erst in der betrieblichen Praxis. Die eigene Geschäftstätigkeit der Branche darf nicht die Umweltschutzziele der EU verletzen.
Zwar ist die Absicherung fossiler Industrien nicht verboten, aber sie kann den Prozentwert empfindlich stören. „Versicherer werden ihre Aktivitäten überdenken, und für Mineralölkonzerne wird es schwieriger“, sagt Versicherungsprofessor Fortmann. „Volumenträchtige Geschäfte, die den Taxonomiewert stark beeinflussen, werden voraussichtlich in Zukunft stärker hinterfragt werden.“
Die Taxonomie kann sich auf das gesamte Geschäftsmodell von Versicherern auswirken. Deshalb rechnen vor allem börsennotierte und dadurch unter Druck von Investoren stehende Gesellschaften diese mit Unternehmensberatern durch. Selbst über die Auswirkungen auf die private Krankenversicherung habe sie schon mit Kunden diskutiert, sagt Simone Schwemer, Leiterin ESG Zentraleuropa Versicherungen der Beratung Boston Consulting Group (BCG). Man habe aber geschlussfolgert, dass die Anforderungen an Kunden, sich nachhaltiger zu ernähren, zu stark in deren Freiheit eingriffen. „Im Retailbereich wird und muss es auch Veränderungen geben. Der große Hebel der Versicherer liegt aber im Industriegeschäft“, sagt sie.
Portfolios mit unklarem Fußabdruck
Die Regulierung der EU sei dennoch ein starker Eingriff, sagt ihr Kollege Christopher Freese, Managing Partner von BCG. In keiner anderen als der Finanzdienstleistungsbranche würden Unternehmen in die Mithaftung genommen, damit Klimaschutzvorhaben gelingen. Anders als das Investitionsverhalten sei das Versicherungsgeschäft eine Blackbox. „Das Underwriting-Portfolio ist für Versicherer am unklarsten. Das ist sehr komplex, man muss verstehen, wie der eigene Footprint aussieht“, sagt Freese. Seine Berater versuchen, die Vorgaben handhabbar zu machen. Versicherer mit einer Flotte versicherter Verbrennerautos müssten sich darauf einstellen, für einen guten Taxonomiescore den Wert an anderer Stelle zu kompensieren.
Immerhin: „Es gibt mittlerweile einen definierten Standard zur Messung der Emissionen in einem Versicherungsportfolio, was Vergleichbarkeit und Steuerung ermöglicht. In KfZ ist dies, zumindest in Deutschland, auch relativ einfach durchzuführen“, sagt Freese. Schwieriger sei es in den Sparten Hausrat und Wohngebäude, wo Daten über Verbrauchswerte von Wohnungen und Häusern schwieriger zu bekommen sind.
ESG wird unausweichlich
Einige Versicherer haben eine neue Rolle definiert: als Berater von Unternehmen und Haushalten, die ihren ESG-Fußabdruck optimieren wollen. Auch wenn die Taxonomiewerte bislang keine unmittelbaren Folgen haben und viel Wirkung erst dann entfalten, sobald Kunden darauf achten, wird kein Branchenteilnehmer dem Thema ausweichen können. „Jedes Unternehmen muss sich mit ESG auseinandersetzen, Investoren werden darauf achten“, sagt BCG-Beraterin Schwemer.
Versicherungsprofessor Wagner beschreibt eine Szenerie, in der Nichtregierungsorganisationen Druck auf die Branche aufbauen, gleichzeitig aber kein Versicherungsnotstand entstehen darf. Solange Aktivitäten erlaubt seien, könnten Versicherer auch fossile Risiken zeichnen. „Die Branche muss sich fragen, wie sie sich als Transformationsbegleiter aufstellen kann und Entwicklungspfade von Unternehmen aufzeigt, damit diese sich nachhaltiger aufstellen“, sagt er.
Besprochen würden diese Themen zurzeit intensiv, sagt Theresa Jost, Geschäftsführerin des German Sustainability Network, in dem die Branche offene Fragen zur Nachhaltigkeit diskutiert. „Im Schadenmanagement wird sich etwas ändern“, sagt sie. Die Branche werde einen Einfluss auf den Gebäudebestand nehmen, erwartet sie. „Wie werden Schäden reguliert, wie kann man etwas nachhaltig wieder aufbauen?“ Aber einen gesamthaften Wandel des Geschäftsmodells sieht sie aktuell nicht.
Source: faz.net