Haftbefehls skurrile Lachgas-Beichte und was sie verrät
Von den vielen sonderbaren Auftritten, die der Offenbacher Rapper Haftbefehl in seiner langen Karriere voller sonderbarer Auftritte, schon hingelegt hat, war der im vergangenen Sommer vielleicht der sonderbarste. Hingelegt ist ein gutes Stichwort. Videoaufnahmen zeigten Aykut Anhan, wie er in Mannheim zusammensackte, sich am Rand der Bühne festklammerte, nur schwer wieder das Gleichgewicht fand, dann das Mikrofon hinwarf und seinen Auftritt nach einer knappen Minute schon wieder abbrach.
Auf den abgebrochenen Gig folgte kurz darauf die abgesagte Tour – was die Spekulationen nicht bloß um seinen Gesundheitszustand, sondern auch um seinen möglicherweise außer Kontrolle geratenen Drogenkonsum deutlich anheizte. Anhan selber beendete die Spekulationen relativ schnell, er erklärte in einem knappen Statement, dass er zu viel Lachgas konsumiert hätte und er sich nun erst einmal eine Auszeit nehmen würde. Jetzt hat er die Geschichte in einem Interview mit RTL noch einmal ausführlicher ausgebreitet, er, Anhan, habe drei Monate lang intensivst Lachgas konsumiert und sich wie ein Zombie gefühlt. Nun wirbt er dafür, dass man die als Distickstoffmonoxid bekannte Substanz am besten verbietet. Immerhin sei sie für jeden einfach so käuflich zu erwerben. Etwa in Patronen für Sprühsahne-Aufspritzer. Selten war eine Drogenbeichte skurriler.
Dabei sind Drogen als integraler Bestandteil der popkulturellen Trinität (Sex, Rock ‘n‘ Roll etc.) alles andere als ein neues Phänomen. Sie spielen in wirklich allen musikgetriebenen Subkulturen eine mehr oder weniger zentrale Rolle, ja, man kann auf Grundlage der zu einer bestimmten Zeit konsumierten Drogen auch etwas über die jeweiligen gesellschaftlichen Befindlichkeiten lernen. Der Konsum halbsynthetischer Halluzinogene lag dem Bedürfnis nach einer geistigen Wende zugrunde, verbunden mit jener spirituellen Selbstfindung, die die späten 1960er-Jahre und den Sound von Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band konstituierte. Heroin war die Droge der Generation X, die den verzweifelten Wunsch nach körperlicher Destruktion und Betäubung stillte und noch den Schleier der Depression über den Grunge legte. Techno hätte man wahrscheinlich im Kopf nicht ausgehalten, hätte man sich den nicht schon vorher mit bunten Pillen in einen Komazustand sediert.
Statt Rausch sehnte man sich nun nach Betäubung
Auch in der Kulturgeschichte des HipHop entsprach die Bandbreite der konsumierten Drogen immer dem jeweiligen genrespezifischen Zeitgeist. Zu dem frühen, musikalisch entspannten Oldschool-HipHop hat man selbstverständlich Cannabis geraucht, während man mit dem Siegeszug des hypermaskulinen Gangstarap zum Kokain gegriffen hat, das die wahnwitzig imaginierte Omnipotenz seiner Protagonisten bekräftigte. Doch in den 2010er-Jahren gab es einen Paradigmenwechsel. Mit dem Aufkommen von Cloudrap und somit einem immer stärker nach innen gerichteten, auf das allertiefste Selbst ausgelegten Sound, der die Ängste und Depressionen einer wohlstandsübersättigten Generation einfing, wechselte das Bedürfnis vom Rausch zur Betäubung. Sedativa, Anxiolytika und Opiate sind das Amphetamin des neuen Jahrhunderts und eine neue Rap-Generation um Juice WRLD und Lil Peep lieferten den passenden Sound für den Konsum. Oder eben auch den Konsum gewordenen Sound, wer weiß das schon?
In diesem Kontext wurde Codein in den ausklingenden 2010er-Jahren zur zentralen Modedroge, denn sie geht einher mit der Verjüngung des Genres. Die Interpreten und ihr Zielpublikum waren mittlerweile im mittleren Teenager-Alter und Codein ist auch für sie als Bestandteil von Hustensaft in jeder amerikanischen Apotheke leicht zu besorgen. Diese Entwicklung hat ihr vorläufiges Ende während der Corona-Pandemie gefunden, denn die auferlegten Lockdown-Maßnahmen und der Entzug endloser Freizeitmöglichkeiten waren für eine reizüberflutete Generation nun Betäubung genug.
Und jetzt? Lachgas? Würde man es darauf anlegen, dann könnte man den kurzen Distickstoffmonoxid-Kick, der nur wenige Sekunden anhält, tatsächlich als ein Zeitgeist-Phänomen überinterpretieren, in dem sich das Bedürfnis der TikTok-Generation befriedigt, deren immer kürzer werdende Aufmerksamkeitsspanne ständig neue Dopamin-Kicks erfordert. Doch mal ehrlich, bei dem Lachgas-Phänomen handelt es sich bei näherer Betrachtung doch nur um eine genauso populär-mediale Zuspitzung, so wie beim gefährlichen „Trend“, an Klebstoff zu schnüffeln oder sich einen in Wodka getränkten Tampon in irgendeine Körperöffnung … Ach, möge das jeder für sich selbst ergoogeln, was da vor ein paar Jahren alles geschrieben wurde.
Ein Gangster-Rapper wirbt für den Verbot von Sprühsahne-Flaschen. Irre!
Das soll natürlich nicht bedeuten, dass das nicht alles irgendwie und irgendwo auch gefährlich sein kann, aber Kids machen nun einmal Dinge, die Kids machen, und, ja, selbst in einer hypersensiblen Welt, in der jede Banalität noch zum Skandal erhoben werden kann, erscheint es wie ein dystopischer Witz, dass unsere Jugend jetzt im Lachgas-Koma endet – oder dass irgendwer nun ernsthaft darüber diskutiert, Sprühsahne-Flaschen zu verbieten, was zum Glück noch keiner tut, auch wenn ein Gangster-Rapper das nun fordert. (Man möge sich das bitte einmal auf der sogenannten Zunge zergehen lassen).
Es ist die geringste aller nur vorstellbaren Sorgen, die man sich im Angesicht ganz anderer Probleme perspektivisch um die junge, aber ganz sicher nicht letzte Generation machen sollte. Dass ein Haftbefehl fünfzig Flaschen Lachgas am Tag konsumiert hat und deswegen nicht mehr in der Lage war, seine Tour zu spielen … nun, das lässt vielleicht auch auf grundsätzlich andere Probleme schließen, die es für ihn noch zu analysieren gilt. Von einem gesellschaftlichen Problem zu sprechen, wie erste Medien das bereits tun, dürfte hingegen nicht zielführend sein. Denn noch immer gilt auch hier die alte Mod-Weisheit, die auch nach dem dritten Lachgas-Kick nichts an ihrer Richtigkeit verloren hat: The kids are alright.
Source: welt.de