Wer Angel Bat Dawid kritisiert, muss damit rechnen, in den Liner Notes
ihres nächsten Projekts aufzutauchen. Die Klarinettistin, Sängerin und
Pianistin ist bekannt dafür, auf Gegenwind mit mehr Gegenwind zu antworten. Dabei ist fundierte Kritik genau, was die Musik der Künstlerin
aus Chicago verdient. Dawids Projekte, ob mit der Band Tha Brothahood oder
allein, setzen große soziale Energie frei, bauen musikalische Brücken und singen
politisch nicht um den heißen Brei herum. Auch auf Requiem for Jazz, ihrem dritten Album, lohnt die Beschäftigung mit Dawids Kunst.
Musikhistorisch und politisch ist bei ihr einfach mehr
los als üblich, selbst im Vergleich zu vielen anderen Künstlern des Labels
International Anthem aus Chicago, das einer Renaissance des spirituellen,
politisch grundierten Jazz, zu deren Vertreterinnen auch Dawid gehört, ein Dach
gibt.

Im Kern greift Requiem for Jazz auf eine Liveaufnahme zurück, eine Auftragsarbeit für das Hyde Park
Jazz Festival in Chicago aus dem September 2019. Man hört einen großen
Klangkörper aus Sängern des Black Monument Ensembles und Streicherinnen,
Pianisten, Bläserinnen und vieles mehr aus Chicagos Tradition an
experimentellem Jazz. So klingt diese Totenmesse sehr lebendig, wenn sie mal
als früher, roher New-Orleans-Jazz, mal als Blues oder Ragtime
arrangiert wird, mal kirchenmusikalisch anmutet und die lateinischen Teile der
Requiemstruktur zitiert. Sogar an den hundertjährigen Berliner Theaterjazz von
Kurt Weill erinnert die Musik, nur dass sie freier notiert wurde und auch
dynamischer gespielt und gesungen ist.

Das Tremolo zittert oft betont expressiv in den Männerstimmen, die
Stimmführungen lösen sich aus den Chören und
zersplittern in einzelne Schreie, die Schmerz und Wut nicht mehr unterscheiden
wollen oder können. Zwischen diese Liveaufnahmen setzt Dawid jeweils kurze
Stücke, in denen sie wie eine Priesterin der Gemeinde das nächste Thema der
Messe vorgibt, bevor die vollbesetzte Kirche ihr antwortet.

Die Zwischenstücke steigen also aus dem historischen Kontinuum aus und
wollen Gegenwart sein, ja Zukunft sogar. Sie kommen nicht von der Bühne,
sondern aus dem Studio. Sampler, Drum-Machine, Klarinette und die verfremdete
Stimme von Dawid erklingen als Ruf, der die Gemeinde in Fahrt bringt. Diese
stilistische Gegenüberstellung erzeugt eine schöne
Spannung, so wird auch musikalisch ein Schwarzer Gottesdienst aus Requiem for Jazz, eine Art Call-and-Response-Spiel, das einst aus dem Blues in die Kirche fand und heute noch immer
findet. Auch inhaltlich landet das Album schließlich bei Glaubensdingen, die keine Diskussion mehr dulden.

Das erstaunt insofern, als die Texte für Requiem for Jazz fast Wort für Wort auf einen Film von 1959 zurückgreifen, in dem
kontrovers diskutiert wird. Ein Fundstück, in Gänze auf YouTube zu sehen: The Cry of Jazz von Edward Bland, der in 34 Minuten Fragen anspricht, die viele heute erneut beschäftigten, wenn es um kulturelle Aneignung in
der Musik und um die Korrektur der Geschichtsschreibung geht. Zwei weiße Frauen
und zwei Männer reden in einem privaten Jazzclub mit drei Schwarzen
Intellektuellen über die Herkunft von Jazz und fragen
sich, ob Weiße ihn nicht genauso gut spielen könnten. Die Weißen regen sich
sofort auf, wenn ihnen die Schwarzen erklären, warum Jazz (und Blues und
Ragtime) eng mit dem Schmerz der Schwarzen Erfahrung in den USA zusammenhängen
und wie die Musik ihn gleichzeitig überwinden und in joy zu verwandeln vermag. Rhetorisch fliegen die Fetzen, der Film ist wie
Twitter, nur schwarzweiß.

Wenn nicht so viel geraucht würde und die Frauen weniger dümmlich
dargestellt wären, würde man die zeitliche
Distanz zur erhitzten Gegenwart kaum bemerken. Dazwischen montiert der
Filmemacher Bland musikalische Erklärstücke, sozusagen Links, mit Kommentaren
wie aus dem marxistisch-materialistischen Seminar: Warum symbolisiert die
strenge Form des Jazz weiterhin die Unfreiheit der Schwarzen? Warum bedeutet die
Wiederholung der harmonischen Struktur in der Improvisation die “futureless future of the Negro“? Swing, heißt es weiter im Film, diese rhythmische Mischung aus
Triolen und Achteln, sei die Entsprechung des Schwarzen Lebens, das sich immer
in zwei Welten abspiele, einer weißen und einer Schwarzen.

Die Totenmesse gilt gar nicht dem Jazz

Toll gemacht ist das alles im Film, scharf, mitunter formelhaft
argumentiert wie ein dekolonialisierter Adorno. Das riechen die beleidigten Weißen sofort und fragen: Das Leid legitimiert doch keinen Totalanspruch
auf die Musik, wir haben auch gelitten, und wer hat denn mehr gelitten als die
Juden bitte schön? Auch hier geht es wie heute darum, ob Vergleiche von Leid
ein anderes Leid relativieren oder nicht. The Cry of Jazz ist ein unheimliches, aufschlussreiches Zeitdokument.

Das Dialogische der Kontroverse überführt Angel Bat Dawid jedoch nicht
auf ihr Album, sie zitiert nicht die Diskussionen, sondern allein die Argumente
der drei Schwarzen Intellektuellen im Film. So tragen die kurzen
Zwischenstücke lange Namen wie Because Jazz is the
One Element in American Life Where the Whites Must
Be Humble to the Negro.
Man hört diese Sätze genau so in Blands The Cry of Jazz. Im Jazz, heißt das übersetzt,
müssen die Weißen endlich Demut gegenüber den Schwarzen zeigen. Und erst wenn
die Weißen den Preis bezahlt hätten, könne es Gleichberechtigung geben, wie es
in einem anderen Stücktitel heißt: Only When Whites Will Have Paid the Price in Suffering… Die Totenmesse aus dem Albumtitel Requiem for Jazz scheint in solchen Momenten gar nicht dem Jazz zu gelten, sondern der
Idee weißer Vorherrschaft.

Radikal und in ihrer Zeit verhaftet klang solche Rhetorik einmal, als
Schwarze Studierende Ende der Fünfzigerjahre in den Südstaaten der USA nur
unter Polizeischutz in weiße Schulen gehen konnten. Unheimlich vertraut erscheint der
Ton von Dawid hingegen heute. Wer den Film schaut und womöglich weiterliest,
etwa im musikhistorischen Essay Blues People (1963) von LeRoi Jones (der sich später Amiri Baraka nannte), lernt
jedoch mehr über Komplexität, als Requem for Jazz hergibt. Denn Schwarze Intellektuelle wie Baraka und auch Blands Film
wussten um die hybriden Einflüsse auf Schwarze Musik: dass New-Orleans-Jazz
auch europäische Marschmusik in sich trägt, dass der rasende Bebop harmonische Erweiterungen von Debussy und Ravel benutzt. Die
Wurzeln waren nie rein, aber die Innovatoren, die sie ausgruben und neu
verpflanzten, waren im Jazz so gut wie immer Schwarz. Letzteres ist heute unter
halbwegs Vernünftigen völlig unstrittig, so radikal, wie Dawids Worte erscheinen sollen, sind sie also gar nicht. Dass in der Entstehung neuer Kunst immer auch Aneignung von
anderer Kultur steckt, macht die Sache indes komplexer, als Dawid sie
darstellt.

The Cry of Jazz, auch in Chicago gedreht, war Avantgarde. Dawid kann das nicht mehr sein, ihre Musik findet nicht im brutal
unterfinanzierten Underground statt, sondern ist Teil
öffentlicher Kulturförderung und internationaler Festivals. Es ist ja zum Glück
auch einiges passiert, das Hoffnung macht im Vergleich zu 1959: Es gab und gibt
die Obamas (auch sie aus Chicago), Schwarze Musikerinnen dominieren den aktuellen US-Pop, und Black Lives Matter hat sich als wirkmächtige Bürgerrechtsbewegung etabliert.

Dawids Musik und Aktivismus scheinen unberührt von diesen Entwicklungen zu erklingen. Möglicherweise ganz bewusst, weil die Künstlerin auf etwas hinweisen will: Trotz
aller Unterschiede zwischen 1959 und 2023 stehen wir wieder an einer
historischen Schwelle im Kampf um Gleichberechtigung, zu Ende ist der noch lange
nicht. Um es mit dem Paradox des französischen Politologen Alexis de
Tocqueville aus dem 18. Jahrhundert zu sagen, der erst die Revolution zu Hause und
dann jene in den USA beschrieb: Wo die Freiheiten zunehmen,
wächst auch die Sensibilität gegenüber den noch nicht erreichten Freiheiten.

Im Jahr 1959, als Jazz laut des von Dawid
zitierten Films starb, erschienen zwei der wichtigsten Jazzalben des 20. Jahrhunderts: Kind of Blue von Miles Davis und
Tomorrow is the Question von Ornette
Coleman
. Danach war nichts mehr wie zuvor im Jazz. Sollte sich die Geschichte
also wirklich so sehr im Kreis drehen, wie Dawid mit Requiem for Jazz insistiert, müsste bald mal wieder jemand ähnlich bahnbrechende Musik
veröffentlichen wie Davis und Coleman. Angel Bat Dawid gelingt das mit ihrem
neuen Album nicht. Aber es stellt zumindest gewichtige
Fragen in den Raum.