Sie sei “ganz Ohr”. So hat Frau Grafe den Zeitraum eingeleitet, in dem Platz war für meine Erzählung kindlicher Glücksmomente oder Verdrießlichkeiten. Der blöde Olli, der das Federmäppchen durch den Klassenraum gekickt hat, als wäre es ein Fußball. Die beste Freundin, die nun mit Melanie aus der 4 c zum Spielen verabredet ist. Die Aussicht auf Ferien.

Unzählige Male habe ich mich neben den Rollstuhl der alten Frau gehockt und erzählt. Frau Grafe saß ganz still, nur manchmal legte sie ihre Hand auf meinen Arm. “Langsam, Kindchen. Da kommt so eine alte Frau nicht mit, so schnell, wie du durch deine Sätze hastest.” Ab und zu legte sie eine Hand hinter ihr rechtes Ohr. “Das will nicht mehr so, wie ich will”, kommentierte sie die Geste. Auf geheimnisvolle Weise drückte sich in dieser Bewegung alles aus, was ich von Frau Grafe erinnere.

Frau Grafe hat, soweit ich mich erinnern kann, keine Ratschläge gegeben, kein Bestätigung, keine Zurechtweisung. Sie hat auch wenig Fragen gestellt, wie professionelle Zuhörer das machen, um das Gegenüber der Aufmerksamkeit zu versichern oder tiefer in die erzählte Geschichte einzutauchen. Sie hörte nur zu.

Manchmal nickte sie ganz leicht oder schüttelte den Kopf. Es gab keine Schlussworte, das Erzählen geschah fast beiläufig, auf dem Weg zum Musikunterricht oder in den Wald, ein kurzer Umweg durch die Hecke zum Haus nebenan. Das Loch in der Hecke war groß, denn die alte Nachbarin war eine Instanz, wie sie so dasaß, manchmal stundenlang und scheinbar regungslos. Sobald das Wetter es zuließ, schob die Schwiegertochter sie auf die überdachte Terrasse. Manchmal stand eine Tasse Tee auf einem Wagen mit Rädern, die fast so groß wie die am Rollstuhl waren. So sitzend verbrachte sie ganze Nachmittage, bis es dämmerte und die Glocken von fern den Abend einläuteten.

Manchmal haben wir Kinder sie hinter der Hecke beobachtet, als gelte es, sie bei einer heimlichen Tätigkeit zu erwischen, weil wir uns so viel Stillsitzen an einem Fleck nicht vorstellen konnten, aber sie las nicht, telefonierte nicht, wir sahen sie nie mit einer Handarbeit, sie pulte keine Kirschen wie die Alten in den Kinderfilmen, sie hielt einfach ihr faltiges Gesicht in die Sonne und lächelte ab und zu mit geschlossenen Augen.

Frau Grafe war eine Instanz. Zu ihr kamen nicht nur Kinder allen Alters. Liebeskummer, Scheidungen und Lebensentscheidungen wurden vor ihr ausgebreitet – und durch ihre Gegenwart neu zusammengesetzt. Einmal sah ich, wie die Frau aus der Dachwohnung gegenüber ihr Gesicht im Schoß der Alten barg. Ihre Schultern zuckten und zwei runzelige Hände strichen über ihren Kopf. Niemand hätte diesen Moment gestört, nicht einmal wilde Draußenkinder. Wenn Frau Grafe Besuch hatte, schien ein unsichtbarer Vorhang wie eine Gaze aus Diskretion um sie herum zu sein.

Kaum jemand sagt noch: “Ich bin ganz Ohr”

Kurz bevor ich zum Studium aufbrechen wollte, saß sie mehrere Tage hintereinander nicht mehr dort. Wochen nach dem Abitur war sie meine stumme Berufsberaterin gewesen. Ich hatte meine Pläne vor ihr ausgebreitet, meine Unentschiedenheit, das Veto meines Vaters, die Ängste vor dem Erwachsenwerden.

Die leere Terrasse war Straßengespräch. Bei ihrer Beerdigung kamen alle, Kleine und Große, auch viele Autos standen vor dem Friedhof, als sei jemand Berühmtes gestorben. “Sie war eine gute Zuhörerin”, sagte der Pastor, der auch ihr Sohn war, und später beim Streuselkuchen wurde klar, dass das die Untertreibung des Jahrzehnts gewesen ist. “Sie konnte die heimischen Vogelarten an ihren Stimmen erkennen und die gesammelte Nachbarschaft auch, obwohl sie kaum noch etwas sah”, erzählte jemand.

All die Jahre hatte ich gar nicht bemerkt, dass Frau Grafe blind war. Sie hat den Menschen, die ihre Nähe suchten, immer das Gefühl gegeben, gesehen zu sein. Seitdem denke ich immer, wenn wieder jemand sagt, man müsse einander mehr zuhören, an Frau Grafe. Ihr Zuhörenkönnen war in ihrem Falle mehr als alles, was ich – auch in meiner gründlichen Seelsorgeausbildung – über das Hören verstanden habe.

“Ich bin ganz Ohr”, so was sagt ja kaum noch jemand, aber das ist letztlich mehr als nur ein schönes Bild dafür, dass jemand für eine Weile nichts anderes tut als zuzuhören. Ihr Hörenkönnen war eine Art Existenzform, mehr als eine noch so wichtige Fragetechnik, die dem Gegenüber versichert: “Ich bin da, ich höre dir zu, erzähl mehr.” Auch ein Rollstuhl und das schwindende Augenlicht machen noch keine in diesem Sinne begnadete Zuhörerin. Vielleicht lag diese Fähigkeit an ihrem Beruf. Sie war Ärztin und hatte in mehreren Ländern gelebt, ein äußerst ungewöhnliches Leben für eine Frau ihrer Generation.

Im Rückblick frage ich mich deshalb, warum nicht einmal wir Kinder sie nach ihrer Geschichte, ihren Abenteuern fragten. Niemand in unserem Umfeld hat ein so aufregendes Leben gelebt, war so weit gereist, sprach so viele Sprachen. In der Bibel findet sich eine schöne Formulierung für diese Haltung: “Gib mir ein hörendes Herz”, bittet der junge Salomo, Sohn des berühmt-berüchtigten Königs David, kurz vor dem Machtwechsel. Er fühlt sich überfordert, zu jung, die Schuhe des Vaters zu groß. In vielen Predigten wurde aus dem Hören der Gehorsam, was schon einiges sagt über die Art, wie im Christentum der Hörsinn verstanden wird. Immerhin wird so die Asymmetrie zum Thema, die im Zuhören latent vorhanden ist, auch das Machtgefälle, weil die, die zuhören, ihre Aufmerksamkeit jederzeit umlenken, ihr Wissen, ihre Ratschläge, ihre Zurechtweisungen wie eine Bilanz unter die Geschichte des anderen legen. Doch wird so in den religiösen Resonanzraum des Hörenkönnens sofort die Drohung mitkommuniziert: “Wer nicht hören will, muss fühlen.” Ein schrecklicher Spruch aus schwarz gefärbten Erziehungsweisheiten, der Kinder viele Generationen lang im Hören einen Akt der Unterwerfung vermittelte.

Ich glaube ja, dass die biblischen Gotteserzählungen viel mehr mit der alten Frau Grafe zu tun haben. So stelle ich mir auch die Kirche der Zukunft vor. Die offenen und schwerwiegenden Fragen ihrer Organisation und ihrer Rechtsform einfach mal probeweise weggelassen, wünschte ich mir eine Gemeinschaft von Christinnen und Christen, die auf irgendeiner Terrasse, einem Platz, einer Bank sitzen und zuhören, wie Frau Grafe zuhören konnte.

Es gibt immer viel zu tun und zu reden und die Predigt mit erhobenem Zeigefinger – als der soften Form der Gehorsamsrede – mag nicht mehr im Trend liegen, aber was wäre, wenn für eine kleine Zeit ein großes Schweigen ausbräche? Bedeutungsverluste werden naturgemäß mit großer Aktivität überspielt, über Ratlosigkeit und Gottesferne legen sich die Erzählungen von gelungenen Events mit großem Zuspruch wie eine Verlegenheit, die überspielt werden muss.

Zuhören ist ein Akt der Autonomie

Dabei ist es natürlich nicht falsch, sich über die Formen des religiösen Lebens zu verständigen, über die Zukunft der Gottesdienste, die christliche Überlebensgeschichte für Leute, die nicht schon mit Kinderbibeln aufgewachsen sind. In der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie gesprochen, hat eine hörende Kirche erst mal ein Problem. Deshalb ist die Versuchung vielleicht oft so groß, möglichst gute Antworten anzubieten, auch auf Fragen, die niemand gestellt hat.

Mit der Haltung von Frau Grafe käme ein anderer Kommunikationsstil zum Zug. Stille aushalten, das Rauschen des eigenen Blutes, vielleicht auch der Musik, wenn sie nicht übertönt, sondern verstärkt, was so schwer auszuhalten ist. Feinheiten hinter den Grobheiten wahrzunehmen, sich nicht von einleitenden Sätzen schrecken zu lassen, sich auch neben die setzen, die gar nicht mehr wissen, wie sie über sich selbst reden sollen, über ihre Verletzungen, ihre Sehnsüchte, ihre Ideen vom Glück.

Zuhören ist ein Akt der Autonomie. Von außen kann niemand entscheiden, ob die Aufmerksamkeit nur vorgetäuscht ist. Eine Kirche wie Frau Grafe, irgendwo im Kiez oder im Dorf, auf der Friedhofsmauer, auf den kippeligen Stühlen des Kindergartens oder den grauen mit dem schäbigen Stoff in einer Klinik, das wäre es. Eine Kirche als Hörbewegung wäre ein anderer Zukunftsprozess, für den es keine Unternehmensberater braucht, denn das sogenannte Kerngeschäft wäre ja definitiv berührt.

“Fides ex auditu” – der Glaube kommt aus dem Hören, das sagt sich so leicht, und dann folgen doch sofort viele kluge und gewichtige Worte, weil es erwartet wird oder um dieses Ereignis irgendwie zu umschreiben und festzuhalten, damit es nicht entwischt. Das Erlernen dieser Haltung vermeintlicher Passivität ist in Wahrheit ein Akt höchster Aktivität, denn die Orientierung am anderen, auch am ganz anderen, verlangt, die eigenen Belange, Einsichten, Deutungen und Anliegen wenigstens für eine Weile zu brüskieren, nicht so wichtig zu nehmen, sie – zur Not mit einem Akt des Willens – für minderwichtig zu erachten. Die Orientierung am anderen sei pastoraler Kitsch, dieses “Ich-und-du-Getue”, das nur das Mitteilungsbedürfnis und die Machtverhältnisse verschleiere, kam neulich als Einwand von jemandem.

Kitsch wäre es, wenn es leicht ginge, das freundliche Ich trifft auf ein nettes Du. Von selbst versteht sich das Zuhören als Lebensform aber nicht. Die Erzählungen der anderen sind keine fein gemeißelten Prosatexte. Sie sind oft genug eine Zumutung. Wut und Rechthaberei, Kränkungsstolz und Boshaftigkeit sind Teil der Geschichten der anderen. Doch ein Anfang wäre gemacht. Und wenn es gut läuft, ereignet sich vielleicht dieser Grafe-Moment. Gefühle und Erinnerungen verwandeln sich, fallen auseinander und setzen sich neu zusammen.

Vor einiger Zeit war ich in einem Gottesdienst. Da ging der, der den Gottesdienst leitete, für die Fürbitten zum Altar. “Wir beten”, sagte er. Dann kam – nichts. Keine Anliegenliste wie die Headlines der jüngsten Katastrophen, keine Bitten, nicht mal der Dank in der heiligen Sprache. Die Gemeinde wurde erst unruhig. Hat der da vorne im Talar sein schwarzes Buch vergessen? Oder die Stimme verloren?

Aber er steht gerade und ganz ruhig. Die Stille überträgt sich. Eine andere Art der Anwesenheitserfahrung legt sich über den Raum wie ein milder Duft. Nach dem Gottesdienst sagt jemand: Das war die intensivste Fürbitte, die wir als Gemeinde je gemeinsam gebetet haben. Ich hatte plötzlich ein Ohr für die Nöte hier im Raum und da draußen. Frau Grafe hätte vermutlich mild gelächelt und ihr Gesicht in die Frühlingssonne gestreckt.