DJ Gigola: Techno im Duftkerzenschein
Vor dem Club Ohm in Berlin stehen
hunderte Menschen in der Schlange. Sie warten teilweise über eine Stunde im
Nieselregen, um DJ Gigola zu sehen. Wer an der grimmigen Türsteherin
vorbeikommt, betritt einen weiß gefliesten Raum mit viereckiger Bar und
dahinter liegender Tanzfläche. Die Handykameras werden abgeklebt, was hier
passiert, soll auch hierbleiben. So ist es öfter in Technoclubs, gerade weil
sie als Orte gelten, an denen der Zeitgeist spukt. Hier setzen sich Trends
fest, hier beweist man sich gegenseitig, dass man weiß, was los ist. Und wer
unsicher ist, schaut es sich eben bei den anderen ab.
DJ Gigola erscheint geradezu
beseelt von Zeitgeistigkeit. Der Abend im Ohm ist für sie eine Art Homecoming.
Die Künstlerin, die eigentlich Paulina Schulz heißt, bespielt inzwischen
größere Locations, sie gehört zum Inventar des Berghains oder des Münchener
Clubs Blitz. Auch in Amsterdam, Barcelona, New York und Mexiko-Stadt legt sie
auf. DJ Gigola ist also, wie man so sagt, angesagt. Aber das muss natürlich so
nicht bleiben. Kaum beschwört man etwas oder jemanden als zeitgeistig, ist es
eigentlich schon wieder vorbei mit der Zeitgeistigkeit. Als gelänge der Zauber
nur, solange er unbestimmt bleibt. Wie in einem Cartoon, in dem die Figuren in
der Luft laufen können, bis sie die Bodenlosigkeit unter ihren Füßen bemerken.
Zum Interview trifft man DJ Gigola
Ende Januar im Berliner Büro ihrer Plattenfirma Live From Earth. Kalt ist es
dort, die dicke Daunenjacke bleibt an. In einer Ecke des Raums stehen Bierkisten, in einer anderen steht eine Pappfigur von Angela Merkel mit kleiner
Fischermütze auf dem Kopf. Nicht den Zeitgeist kehrt DJ Gigola im Gespräch
heraus, sondern den Feingeist. “Es macht mir Spaß, darüber nachzudenken,
was das Internet für Identitätsfindung und Bindungsfähigkeit bedeutet”,
sagt sie zum Beispiel. Oder: “Was macht die Globalisierung mit dem
Planeten und der Liebe zur Natur?” Daran, dass sie gerade einen Moment im
Rampenlicht erlebt, scheint sie nicht zu denken. An die Vergänglichkeit von
Rampenlichtmomenten erst recht nicht.
Paulina Schulz wurde 1991 in Berlin
geboren. Hier ging sie zur Schule, hier studierte sie Medizin, und hier legte
sie 2016 zum ersten Mal auf. Ihre Neunzigerjahre-Kindheit klingt nach der Soulmusik
ihrer Mutter, dem Rock’n’Roll ihres Vaters. Ihre Nullerjahre-Jugend klingt nach
Hip-Hop-Beats, zu denen Schulz Choreografien einstudierte. In den Zehnerjahren
kam schließlich Techno dazu, die Kompromisslosigkeit der Berliner Clubmusik.
Und die Zwanzigerjahre als DJ
Gigola? Die Tanzfläche im Ohm ist voll, vor dem DJ-Pult drängen sich die Leute.
Vokuhilas, Ohrringe, Perlenketten. Aber viele tragen auch einfach Jeans und
T-Shirts. Ungezwungene Stimmung. Als DJ Gigola ihren Song Papi anspielt,
schreien die Tänzerinnen und Tänzer. Ein poppiger Track mit einem eingängigen
Refrain. Er ist einer der Gründe dafür, dass DJ Gigola zu den aktuell
wichtigsten DJs der Szene gehört. Sie komponiert und legt die Musik auf, die
sie liebt – und bricht dabei schon seit Jahren mit vielen Techno-Tabus.
Es ist nicht lange her, da hätten
Techno-Dogmatiker, ihren heiligen Ernst wie Mistgabeln vor sich hertragend, DJ
Gigola noch aus dem Club geschmissen. Das Selbstverständnis der Szene ist seit
jeher Avantgarde, die Regeln, die sie sich auferlegt, haben aber auch einen
konservativen Touch. Eine Zeit lang trugen alle Schwarz, der Beat musste vor
allem hart sein und sollte alles, was in den Neunzigern mit Melodien und
Verspieltheit passiert war, vergessen machen. Die Loveparade, Gigi D’Agostino,
neonfarbene Netzshirts, Mittelscheitel und Nippelpiercings: Das alles galt als
Ausverkauf. Dass die Techno-Szene noch vor Kurzem sehr dogmatisch war und es in
Teilen weiterhin ist, habe etwas mit gatekeeping zu tun, sagt DJ Gigola. “Wenn man irgendwo Zugehörigkeit gefunden hat, dann will man diesen Ort
oder dieses Gefühl bewahren. Alles, was die Zugehörigkeit infrage stellt, wird
zur Bedrohung. So entsteht jedoch Spießigkeit.”
DJ Gigola hat diese einsetzende
Spießigkeit aufgebrochen. Schon bei ihren ersten Sets mixte sie
Loveparade-Tracks der späten Neunziger- und frühen Nullerjahre mit
Trance-Beats. Ein Tabubruch, aus dem etwas Neues entstanden ist. Ein Sound, der
gleichzeitig nostalgisch und – wir wollen es noch einmal wagen – zeitgeistig
klingt. “Das ist das Geile an Techno”, sagt sie. “Weil die Musik
so reduziert ist, kann man gut damit spielen.” DJ Gigola nimmt zum
Beispiel einen Song von Peaches und stellt ihn auf den Kopf. Der Remix
geht für sie aber über die Musik hinaus, er setzt sich auch in ihrem Auftreten
und ihrer Kleidung fort. Bei DJ-Gigs trägt sie einen froschgrünen Zweiteiler
aus bauchfreiem Top und Minirock mit riesigen Schnallen, einen knallroten Anzug
aus Leder mit weißen Heels oder einen freizügigen Badeanzug mit Baggyhosen. “Ich
bin Teil der Generation Remix”, sagt DJ Gigola. “Ich setze Dinge neu
zusammen.” Dass es ältere Raver gibt, die damit ein Problem haben, ist ihr
egal.
Innerer Frieden und äußere Ekstase
Bei einem ihrer letzten Livesets im
Berghain wurde DJ Gigola von ihrer Mutter im Rollstuhl auf die Bühne geschoben.
Das war im Dezember 2022, als sie – mit gebrochenem Bein – ihr Debütalbum Fluid
Meditations vorstellte. DJ Gigola ist nämlich nicht nur DJ, sondern auch
Produzentin. Mit ihrer Platte wollte sie etwas Neues und Zusammenhängendes
schaffen, statt an ihre bisherigen Stücke anzuschließen, die geradlinig auf die
Tanzfläche gezielt hatten. Vielleicht wollte sie auch hören, wie das klingt,
wenn die Musikerin DJ Gigola die Medizinerin Paulina Schulz remixt.
“Es geht auf dem Album um
Eskapismus”, sagt sie. “Darum, dass man sich selbst vergisst, die
Welt vergisst. Aber auch um eine Gruppenerfahrung. Darum, dass man sich rhythmisch
bewegt, seinen Körper spürt, die Körper anderer Menschen.” Beim Yoga mache
sie ähnliche Erfahrungen, sagt DJ Gigola, merke, wie es die Grenzen zwischen
ihr und den anderen verwische. Ein Gefühl, das DJ Gigola musikalisch abbilden
wollte. Wie könnte das klingen? Sie hat recherchiert: in Gongbädern, bei der
Klangtherapie, in der Literatur.
Fluid Meditations ist im Verlauf der Recherche zu
einer Achtsamkeitsübung geworden. “I trust myself“,
spricht DJ Gigola im Track Affirmation Practice. “I trust the process.”
Dazu kachelt ein Beat, Frösche quaken, Vögel zwitschern. “I
trust the timing of my life. I am at peace with the flow of life.” Und so weiter. DJ Gigola mischt Techno
mit Meditationsanweisungen, inneren Frieden mit äußerer Ektase. Mal zu entspannten
Bässen, mal zu Beats, die für den Club gebaut sind. Viel Gegenwärtiges fließt
dabei zusammen, die Sehnsucht nach Naturverbundenheit etwa mit dem Wunsch,
alles um sich herum vergessen zu können. Der Zeitgeist spukt schon wieder bei
DJ Gigola.
Im Ohm sehen die Leute derweil aus,
wie sich Fluid Meditations anhört. Einer bestimmten Szene lassen sie
sich nicht zuordnen. Manche tragen die schwarze Uniform der Zehnerjahre-Raver.
Manche gehen im Jahrtausendwende-Style auf, mit gegelten Haaren, weiten Jeans und
ärmellosen T-Shirts sehen sie aus, als wären sie gerade erst aus einer Bravo-Foto-Lovestory
entkommen.
Kleiner Plottwist: Auch DJ Gigola,
die Türöffnerin der Berliner Techno-Szene, findet nicht alles gut, was jetzt zu
ihr in den Club kommt. Früher seien DJ-Sets Orte ohne Handys gewesen, sagt sie,
gerade in Berlin. “Orte, wo man sich ausprobiert hat: seine Sexualität,
seine Identität, wie die Welt auf einen reagiert.” Heute kann es
passieren, dass die Resonanz während eines Auftritts von DJ Gigola verhalten
bleibt, nach der Show aber viele Besucher zu ihr kommen, um Fotos zu schießen.
Es geht nicht mehr darum, wie die Welt auf einen reagiert. “Die Frage
lautet eher: Wie stelle ich mich dar?”
Vielleicht spricht man so als DJ
und Produzentin, wenn sich der Zeitgeist langsam wieder von einem entfernt. Oder
man selbst vom Zeitgeist. Vielleicht wird DJ Gigola mit ihrem nächsten Remix
aber auch schon wieder Regeln brechen, die sich gerade erst manifestiert haben.
“Fluid Meditations” von
DJ Gigola ist bei Live From Earth erschienen.