News: Flüchtlingsgipfel, Streit über Wolf, Russland, Gerhard Schröder

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»Atmendes System«

Wie lange man doch über eine Zahl streiten kann. Eine Milliarde Euro als Sonderzahlung des Bundes an die Länder für die hohe Asylbelastung stand gestern bereits in einem gemeinsamen Beschlussvorschlag, bevor sich die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten um 15 Uhr mit dem Bundeskanzler zum Flüchtlingsgipfel trafen. Nach sechs Stunden Verhandlungen stand fest: Die eine Milliarde kommt, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Was aber war zwischen der einen Milliarde (15 Uhr) und der anderen Milliarde (21 Uhr) geschehen?

Offenbar wurde stundenlang ums Geld gerungen, es ging um Unterstützung, Solidarität und die Frage, was geschehe, wenn etwa die Zahlen an Geflüchteten nach oben schnellten. Bleibt die Finanzierung dann stabil oder müssen alle sparen?

Von einem atmenden System war die Rede, das sich die Länder wünschten. Keinen fixen Zuschuss, sondern direkte Unterstützung jedes Flüchtlings.

Zu Ende gedacht wurde gestern nichts, weiter soll es im Juni gehen, dann im November, eine klassische Vertagung.

Bund-Länder-Treffen im Kanzleramt

Bund-Länder-Treffen im Kanzleramt


Foto: Bernd von Jutrczenka / dpa

Vertagt sind damit aber auch die eigentlichen Fragen: Wie sieht kluge Migrationspolitik der Zukunft aus? Wie können mehr Menschen nach Hause geschickt werden, deren Begehr nach Asyl abgelehnt wurde? Wie gelingen effektive Migrationsabkommen mit anderen Ländern? Wie genau hilft Digitalisierung? Und wie kommen mehr Facharbeiter ins Land?

Auf diese Fragen, so ist zumindest zu vernehmen, verwendete die gestrige Runde eher weniger Zeit.

Der Wolf und die 16 Minister

In Königswinter mit seinem prächtigen Petersberg treffen sich seit gestern die Umweltminister der Länder zur zweimal jährlich stattfindenden Umweltministerkonferenz. Es ist unwahrscheinlich, aber doch nicht auszuschließen, dass der eine oder andere, sollte er sich im Morgengrauen vor den Beratungen die Beine vertreten wollen, eine besondere Begegnung erlebt – mit einem Wolf.

Wölfe (in Wildpark)

Wölfe (in Wildpark)


Foto: Thomas Kienzle / AFP

Nur wenige Kilometer vom Tagungsort entfernt passierte es kürzlich tatsächlich einem jungen Landwirt: Ein Rudel Jungwölfe überquerte vor seinen Augen die Straße.

Seit Längerem gibt es in vielen Bundesländern heftigen Streit wegen solcher Begegnungen, die für Nutztiere meist tödlich enden. Bauernverband und weite Teile von CDU und FDP fordern eine stärkere Regulierung der Raubtierbestände, die AfD schürt die Angst vor dem bösen Wolf, Grüne und die Umweltverbände mahnen zur Vorsicht.

Auf ihrer Tagung wollen die Umweltminister der Länder nun eine gemeinsame Position finden, eine Art länderübergreifende Wolfslinie sozusagen, keine einfache Herausforderung. In Bayern ist Wahlkampf, Markus Söder würde den Wolf am liebsten schnurstracks aus dem Freistaat verbannen, es wäre ihm ein Triumph. So einfach ist es aber nicht. Die Wolfsdebatte hält noch an.

Ein zweites großes Thema ist die Frage, wie die Energiewende trotz strenger Umweltvorgaben gelingen kann. Der Gastgeber und Vorsitzende, der grüne NRW-Umweltminister Oliver Krischer (bis vor einem Jahr noch Staatssekretär in Habecks Wirtschaftsministerium) hat da klare Prioritäten: Energie vor Umwelt. Die deutsche Umweltministerin Steffi Lemke (ebenfalls Grüne) sieht das genau andersrum.

Es dürfte hitzig werden – mit oder ohne Wolf.

Mehr oder weniger Geld

Zweimal im Jahr gibt es für den Bundesfinanzminister einen Termin, an dem gute oder schlechte Nachrichten für ihn verkündet werden. Heute ist es wieder so weit: Um 15 Uhr wird in Bad Homburg die aktuelle Steuerschätzung bekannt gegeben.

Bundesfinanzminister Lindner

Bundesfinanzminister Lindner


Foto: Michele Tantussi / REUTERS

Experten von Bund und Ländern, von Forschungsinstituten, der Bundesbank und dem Statistischen Bundesamt haben tagelang errechnet, wie viele Einnahmen der Staat wohl machen wird. Bei der letzten Steuerschätzung im November ging man von höheren Steuereinnahmen als bislang prognostiziert aus.

Ob der Trend auch diesmal gilt, ist allerdings fraglich. In der gestrigen Runde mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten (siehe oben) soll Lindner Teilnehmern zufolge vor allzu viel Euphorie gewarnt haben. Er rechne »nicht mit großen Überraschungen«. Vielleicht aber mit kleinen?

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Der PR-Erfolg des Tages…

…geht an den russischen Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew. Man könnte ja glauben, der höchste Vertreter der russischen Regierung in Deutschland sei seit dem 24. Februar 2022 eher isoliert. Wer will schon Nähe zu einer Regierung demonstrieren, die einen brutalen Angriffskrieg führt?

Doch als der Botschafter am Jahrestag des Sieges der Sowjetunion über Deutschland im Zweiten Weltkrieg zum Empfang lud, kamen so einige, wie Berichte und Fotos nahelegen: Altkanzler Gerhard Schröder mit seiner Gattin So-yeon Schröder-Kim zum Beispiel, der frühere SED-Generalsekretär Egon Krenz, von der AfD schauten Alexander Gauland und Parteichef Tino Chrupalla vorbei, der dem Botschafter ein Gastgeschenk überreichte, eine Tasse mit preußischem Adler.

Auch Klaus Ernst von der Linkspartei machte seine Aufwartung. Er sagte der »Berliner Zeitung«, er sei »trotz der komplizierten Situation wegen des Krieges« gekommen, weil »Russland entscheidenden Anteil an der Niederwerfung des Faschismus« gehabt habe. Ohne den Sieg Russlands wäre sein Leben anders verlaufen, sagte Ernst, »deshalb ist das ein wichtiger Tag«.

Ich rätsele ein wenig, was Ernst mit der »komplizierten Situation« meint. So kompliziert ist sie eigentlich nicht. Russland hat die Ukraine völkerrechtswidrig angegriffen. Deshalb könnte man sich als Politiker schon überlegen, ob man der Einladung von Vertretern dieser Regierung zu einer Feierlichkeit folgen sollte.


Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

  • Hochstapler Santos lehnt Rücktritt ab – und will sich wiederwählen lassen: George Santos hat seinen Lebenslauf teils frei erfunden und steht nun ernsthaft mit dem Gesetz in Konflikt. Trotz 13 Anklagepunkten gibt sich der Republikaner kämpferisch – sein Anwalt klingt weniger optimistisch.

  • Mysteriöses Buch führt Vorverkaufslisten an – wegen Taylor Swift: »4C Untitled Flatiron Nonfiction Summer 2023«: So kryptisch wird ein neues Buch in den Listen der US-Händler geführt. Inhalt und Autor(in) sind völlig unklar. Fans von Taylor Swift bestellen trotzdem vor.

  • Könnte ein neuer RSV-Impfstoff zu Frühgeburten führen? Viele Säuglinge sterben an einer RSV-Infektion. Ein Impfstoff, der kurz vor der Zulassung steht, könnte die Sterblichkeit senken. Doch einige Experten sehen in den Studiendaten ein gravierendes Problem.


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Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute

  • Heiliges Pulverfass: Immer mehr nationalreligiöse Israelis beten auf dem Tempelberg – auch ermutigt durch die nationalreligiöse Regierung. Für die Muslime liegt hier ihr drittwichtigstes Heiligtum. Droht um Jerusalem ein neuer Glaubenskrieg? 

  • »Gute Bürokraten müssen wir sein«: Die Weizsäckers begannen als Müller und brachten es bis zum Bundespräsidenten. Das gelang, weil die Familie sich früh in den Dienst des Staates stellte. Denn einst war die Beamtenkarriere ein Garant für den sozialen Aufstieg. 

  • »Menschen müssen einfach lachen, wenn sie uns sehen«: Von Kenia über Malawi bis Südafrika – seit mehr als einem Jahr fahren vier Freunde mit Tuk Tuks quer durch Afrika. Ein Gespräch über nächtliche Elefantenbesuche und Todesangst in der Schlucht der Tausendfüßler. 

  • Die Halle der Friseure: Gemeinschaftsräume zum Arbeiten finden Laptop-Arbeiter fast überall. In Hannover können auch Friseurinnen, Therapeuten und Sporttrainer sich stunden- oder tageweise in einem Co-Working-Space einmieten. Klappt das?

Ich wünsche Ihnen einen erlebnisreichen Tag.

Ihr Martin Knobbe, Leiter des SPIEGEL-Hauptstadtbüros